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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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einen Gott geben sollte, auf dessen schreckliche Taten jemand ein Reich gründet, oder überhaupt einen Gott, lieber stellte er sich die Welt als leeres Gefäß vor, was er sich selbst nicht eingestand, ganz leer, was immer man hineinfüllt, alles fließt heraus, verströmt, verliert sich im Staub, vergeht, verflüchtigt sich. Solches sah und dachte er, auch wenn er unverändert die kleineren und größeren Festtage beging, die Regeln streng einhielt und diese Ansichten vor sich verheimlichte wie jemand, der sich im Alter nunmehr anstelle der Eltern wie ein Kind behandelt. Immer bleiben, wie man war. Was immer geschieht, die Welt darf sich nicht verändern, selbst wenn er mit beiden Augen die rasende Veränderung sah, ließ er sein Denken nicht mitgehen, damit seine persönlichen Erfahrungen nicht unkontrolliert am Nullpunkt seines Glaubens oder seiner Zweifel ankamen.
    So durchwirkte ihn die Abwesenheit Gottes mit schrecklichem Schmerz, doch über diese immer größere Entfernung hätte er um nichts in der Welt gesprochen.
    Gottlieb war kein Tor.
    Mit niemandem.
    Er musste unbemerkt das Pflaster des Fischmarkts überqueren, der mit seinen Katzen, den auf Reste wartenden Bettlern, den lauten Möwen und Hunden zu dieser Stunde von den städtischen Angestellten geschrubbt und gereinigt wurde. Gottlieb wartete, bis er zwischen den umgekehrten Bottichen, den von Wasser und Schuppen glänzenden Tischen grußlos hindurchstechen konnte, unter die kugelförmigen Eschen, um durch die sonnendurchglühte Szent-János-Straße, dann durch die zweifach gewundene, enge kleine Kigyó-Straße vor der im vertrauten Tempo funktionierenden Welt zu fliehen, die breite, stille Szentháromság-Straße entlang, mit den strengen Häusern der angeseheneren katholischen Familien auf beiden Seiten, feindliche Festungen mit heruntergelassenen Rollos und zugezogenen Läden, um an der Ecke der Judenstraße endlich zu dem alten, mit rosa Grabsteinen vollgestellten israelitischen Friedhof zu gelangen.
    Hier hatte er dann tatsächlich Grund zum Fürchten, so ohne Hut.
    Die Gojim können nicht wissen, was der Zorn und das Urteil des Allmächtigen bedeuten, keinen Juden aber gibt es, der das nicht weiß. Die entsetzliche Aussicht überfiel ihn mit dem Gefühl schmerzlicher Gewissheit. Er blieb neben dem alten Lattenzaun im Schatten stehen, damit nicht so viel Licht auf seinen kahlen Schädel brannte, und er starrte mit fremden, gottverlassenen Augen auf die Straße, laut atmend.
    Zwischen den Atemzügen betete er immer noch.
    Da war ein großer Verkehr und ein großes Geschrei, ein quietschender Karren wurde an ihm vorbeigeschoben, beladen mit altem Karsumpel. In dem Lärm schien es unmöglich, dass er sein Haus unbemerkt erreichen würde. Zwei ihm unbekannte Altwarenhändler brüllten herum, sie drehten Knarren in der Hand, um auf sich aufmerksam zu machen. Beide trugen eine Kippa. Kaufe alles, brüllten sie verzweifelt in den Lärm ihrer Knarren hinein, alles aus Haus, Küche, Kammer. Ein paar Meter weiter rupfte eine christliche Dienstmagd laut singend ein Huhn am Ufer des unkrautbewachsenen Grabens. Kinder trieben um die Wette Reifen durch den Staub, ein mit letztjährigem Rebenholz vollbeladener Karren kam quietschend und knirschend gefahren. Jemand goss Spülwasser aus dem Fenster. Aus den tiefen Tordurchgängen und den widerhallenden Höfen waren Hämmern, Feilen, lauter Streit zu hören, das Zuknallen einer Tür schnitt ihn ab. Dann öffnete sich die Wunde zusammen mit dem Küchenlärm wieder, und während eine Männerstimme bat und flehte, schrien zwei außer sich geratene Frauenstimmen.
    Ein paar Wochen zuvor hatten die Gottliebs von ihrem Sohn Jakab per Post die Schiffsfahrkarten erhalten, damit sie sich im Hafen von Rotterdam nach Übersee einschifften.
    Auch die Eisenbahnkarten bis dorthin hatten sie schon gelöst, und der Brief des jungen Gottlieb lautete dahin gehend, dass sie in einem alten Hafenhotel übernachten sollten, wovor sich Gottlieb mehr fürchtete als vor der langen Seefahrt. Und was, wenn sie in dem alten Hotel kein Zimmer finden. Was mache ich dann mit deiner Mutter. Wie Pilze im Wald, so viele Hotels gibt es in der Nähe eines Piers, antwortete Jakab. Da brauchen sie sich wirklich keine Sorgen zu machen. Räuberbanden und Betrunkene machen jedes Hafenhotel unsicher, das wusste Gottlieb; er sah vor sich die in ihrem Blut liegende Leiche seiner Frau, in den zerfetzten Daunendecken im durchwühlten kleinen Zimmer. So viel

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