Parallelgeschichten
Er sah den Vormittag vor sich, ein paar Tage nach der Beerdigung, wie die Gehilfen die letzte fertiggestellte Barke aus dem Hof schieben.
Diesmal kein Jubelgeschrei, als sie unten mit lautem Platschen zu Wasser gelassen wird, nur die Hunde bellen und kläffen vor Freude, weil sie es unter ihrem Meister auch getan haben.
Seither war die Werkstatt von den Ranken des Wilden Weins zugewachsen.
Dann stand er lange auf diesem zu toter Sauberkeit gekehrten, seit Jahrzehnten unbenutzten Hof, wartete an der Sonne, ungeduldig, untätig, mit feierlichem Gefühl darauf, dass am Tor geklopft würde und endlich jemand mit dem Holz kam.
Seither hatte man ihre beiden Hunde ebenfalls umgebracht.
Aber niemand kam, denn Gottlieb suchte hilflos und fieberhaft, ohne ein Gefühl für seine Vergesslichkeit, im Büro nach seinem Hut.
Bevor er jemanden in der Nachbarschaft anheuern ging, daran erinnerte er sich noch, aber schon hatte er auch vergessen, was er suchte. Trotzdem suchte er es, instinktiv. Tastete zwischen Papieren herum, schaute unter Möbel, wenn er es fand, würde er sich ja bestimmt erinnern. Dazwischen murmelte er Bruchstücke eines bei anderen Gelegenheiten gebräuchlichen Gebets, sagte bei sich, einzig ist unser Gott, wie um sich zu überzeugen, dass er jemandem vertrauen konnte. Du, Gott, bist unser Herr, verherrlicht und geheiligt werde Gottes großer Name, fuhr er auf Hebräisch fort, es war ihm zufällig in den Sinn gekommen, kein bewusstes Anflehen.
Seit Jahren betete er um nichts, dankte aber für alles, und wenn er für seine in Dombóvár lebende Tochter und seinen auf Coney Island lebenden Sohn betete, sagte er einfach auf, was er fünfzig Jahre zuvor in der Jeschiwa gelernt hatte, nicht mehr ganz sicher, ob er es auch wirklich verstand. Er sah keinen Sinn darin, vom Herrn etwas zu erflehen. Er erfüllte ihm gegenüber zwar seine Pflicht, aber Wünsche und Absichten hatte er keine mehr. Nicht einmal dann hört der Herr eine Bitte, sagte er sich heimlich, ja, vorwurfsvoll, wenn er eine Bitte erhört. Der Herr hört nicht, auch wenn er nicht taub ist.
Die Barmherzigkeit des Allmächtigen und die menschlichen Anliegen stehen in keinem Kausalzusammenhang.
Etwas später ging Madzar ins Haus, im Flur, der von der Winterkälte muffig roch, hob er den Deckel der altungarischen Mitgifttruhe, in der sein Vater, sein Großvater und der bei ihnen wohnende alte Gehilfe ihre vielfach geflickte saubere Arbeitskleidung aufbewahrt hatten.
Es war alles da, gebügelt, sorgsam gefaltet. Während er sich für die Arbeit umzog und ihm aus der Truhe der durchdringende Duft der zu Hause hergestellten Waschseife entgegenströmte, kam immer noch keiner mit dem Holz auf der Schulter daher. Die Seife wurde im Herbst gekocht, wenn die Blätter von den Pappeln schon goldgelb herunterfielen, manchmal ging Bellardi mit, um die bei der Großmutter gesammelten Knochen auf dem Schubkarren nach Hause zu schieben.
Gottlieb schloss endlich, von Schande und Unruhe gepeitscht, das Büro.
Das war ja eigentlich schön vom Bellardi, den Karren mit den stinkenden Knochen zu schieben, immerhin war seine Mutter eine Herzogin königlichen Geblüts. Schön von ihm, auch das. Vom Herrn Jesus war es schön, sie beide mit einer tiefgefühlten kindlichen Liebe füreinander zu beschenken.
Er floh geradezu vor den Worten seines Gebets, heilig bist du, heilig ist dein Name, Heilige preisen dich Tag für Tag, er beeilte sich und wählte einen Umweg, auf dem er barhäuptig, in allertiefster Schmach, den wenigsten Bekannten begegnen musste.
Bloß allen aus dem Weg gehen.
Er ging an der vom Hochwasser geschwärzten Ziegelmauer der Seidenspinnerei entlang, sprach und wiederholte es für sich über das gleichmäßige Summen und Rattern der Maschinen, das metallische Klicken der Kämme hinweg. Mit den hebräischen Gebetsbruchstücken verdrängte er jedes ungarische Wort, nicht mehr ungarisch denken, keine ungarischen Vorstellungen, keine Erinnerung mehr. Lobet über unserem Tag den großen Geheiligten. Entsetzlich, er erschauerte, Herr, was du uns heute gegeben hast. Es erhebe sich dein auf Barmherzigkeit gegründetes Reich und dein goldener Thron über alles Schreckliche.
Zwischen dem uralten Text und Gottliebs sachlicher Denkweise gab es im Übrigen keinen Zusammenhang mehr, er konnte nicht mehr glauben, dass die Schöpfung irgendwie von der dummen menschlichen Bettelei berührt wird. Er glaubte es nicht mehr, glaubte seinem Glauben nicht mehr, dass es
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