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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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längst vergessenen Züge der älteren Madzar vor sich.
    Der hier war doch ein Klassenkamerad seines Sohns gewesen, auf der Volksschule in der Koronaherceg-Straße.
    Die unbeantworteten Fragen und seine nie versiegende Empörung öffneten ihm den Blick auf sein eigenes Schicksal, sein Alltag brach über ihn herein. Er sah seinen kleinen Jungen als erwachsenen Mann vor sich, seinen unglückseligen, verkrüppelten kleinen Jungen. Macht nichts, der wird dann Uhrmacher, so hatten sie es geplant.
    Seine Seele heulte auf.
    Er sah seine schöne, starke Frau vor sich, in der Zeit, als sie noch nicht wahnsinnig war. Sie war schon als Mädchen ein wenig verrückt gewesen, aber niemand hätte gedacht, dass sie als verheiratete Frau durchdrehen würde. Aber die schwereren Vorwürfe machte er sich selbst. Er spürte das tastende, drohende Näherkommen des Endes, wenn ihre geistige Umnachtung total sein würde. Er hatte den Madzarjungen nicht erkannt. Nicht nur finde ich meinen Hut nicht und stehe zu meiner größten Schande barhäuptig vor unserm Herrscher, gerühmt sei sein Name allezeit, sondern weiß nicht einmal, ob ich mir am Morgen meinen eigenen Hut auf den Kopf gesetzt habe.
    Das Versäumnis verwirrte ihn so stark, die Anwesenheit und das unverständliche Verhalten des anderen verletzten und wühlten ihn so tief auf, dass er nichts davon sehen lassen durfte.
    Als er mit seiner Verzweiflung endlich allein war und über den vom Spatzenlärm erfüllten Hof in sein Büro zurückhinkte, begann er zu pfeifen, was bei ihm kein Zeichen von Fröhlichkeit war, sondern von unerträglicher Spannung.
    Gut, dann war auch diese Stunde gekommen.
    Er tröstete sich damit, dass er immerhin das Holz losgeworden war.
    Der Architekt spazierte über den Damm bis zur Schiffsstation. Er setzte sich auf einen großen Stein neben dem kleinen Pavillon der Fährleute und sah zu, wie die Fähre fast leer von der Insel zurückkam; unter lautem Knirschen fuhr sie auf die Steinplatten des Ufers auf. Zuerst ließen serbische Zigeuner in blütenweißen Hemden drei unruhige Pferde über die Rampe poltern. In der Landschaft kein Gegenstand, der nicht die Vergangenheit aufgewühlt hätte. Die Sonne brannte, über der leichtbewegten Oberfläche des Wassers hatten sich zu dieser Stunde die frühen Dünste verzogen, verflüchtigt, der Himmel ließ den schnell strömenden Spiegel des Wassers in braunen, blauen und weißen Flecken aufglänzen.
    Es gab Sekunden, in denen sich die Landschaft einmal um sich selbst drehte, weil er das Gefühl hatte, dass sich doch alles auf Frau Szemző bezog.
    Für sie phantasierte er vom schönen Nachdunkeln der Schwellenhölzer, er verstand gar nicht, was das mit ihr zu tun hatte.
    Den Bellardi hingegen so rasch wie möglich vergessen.
    Ob er das bestimmte Dunkelviolett, das an den dichtesten Oberflächen, an den Knoten und Knorren, sichtbar war, an den Schnittflächen des aufgetrennten Holzes wohl wiederfinden würde. Keine einzige Frau mit weißem Kopftuch unter den korbbeladenen, sich zu Fuß oder mit dem Rad fortbewegenden Frauen, die laut schwatzend, um die Wette rufend hinter den Pferden her das Ufer betraten. Aber es war auch zu früh, seine Mutter kam noch nicht von der Insel zurück, nie vor vier Uhr. Das hier waren die ungarischen Frauen, er sah es von weitem, Katholikinnen und Reformierte trugen ihre Kopftücher je anders, auch die Slawinnen, die das über die Stirn gespannte weiße Leinentuch nicht unter dem Kinn, sondern im Nacken festbanden, allerdings nur bei der Arbeit. Die fruchtbarsten Felder der Mohácser befanden sich am andern Ufer, auch die Unterkünfte der Hirten und Fischer und die Meierhöfe der wohlhabenderen deutschen Landwirte, die im Sommer mit Kind und Kegel dorthinaus zogen. Als Kind hatte sich Madzar häufig beklommen gefragt, ob er unter den vielen gleich angezogenen, laut tratschenden Frauen seine eigene Mutter erkennen würde.
    Wieder hatte er am Geländer stehend die Fähre angestarrt, seine Mutter würde er nie mehr finden. Laut losheulen durfte man aber nicht, da zwischen den Pferden, den hochbeladenen Heuwagen, den Fahrrädern und Menschen. Ein Junge, der weint, lachte ihn eine der deutschen Frauen aus, was gibt das für einen Mann, von irgendwoher kam auch gleich die beringte Hand seiner Mutter zum Vorschein und schlug ihn auf den Mund.
    Gar keinen, wenn du ihn so machen lässt, aus dem wird kein Mann.
    Bellardi ging ihm doch nicht aus dem Sinn, auch nicht die Arme, die nach gebratenem Fisch

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