Parallelgeschichten
Häftlinge das Artilleriefeuer nicht hörten.
Kammer musste allein sterben.
Etwas Entsetzlicheres konnte im Lager nicht geschehen, der Peix blieb allein, und dann gute Nacht, niemand mehr würde ihn von irgendetwas zurückhalten.
Döhring, der neue Stellvertreter des Kommandanten, von den beiden Döhrings der jüngere und grausamere, würde den Peix bestimmt anders einsetzen als sein Vorgänger, der Eisele.
Vielleicht war es bloß Kammer nie aufgefallen, dass für die anderen der Peix die Hölle bedeutete.
Sie alle mit Entsetzen erfüllte.
Es genügten ein paar Tage, und auch die Neuen waren von der Schönheit dieses gesunden, starken Menschenwesens entsetzt. Mehreren kam ein leiser Husten.
Eisele hatte jenseits des Tannenwäldchens mitten auf dem Acker einen langen Verbrennungsgraben ausheben lassen, sieben Meter breit, vier Meter tief, und seit mehr als einer Woche brannten darin die Toten und die Lebenden. Vom Nordtor führte ein schöner Waldweg dorthin. Das Feuer wurde mit reichlichem Benzin angezündet, und als Haar, Haut, Fett mit fröhlichen, eifrigen Flammen brannten, wurde unaufhörlich daraufgeschichtet. Das war Eiseles letztes Werk, was nicht so gut klingt, aber, wie man in Pfeilen sagte, wegen der Epidemien durchaus nützlich war; es rauchte, knisterte. Aus hitzegespaltenen Rückgraten und Schädeln traten Mark und Hirnmasse aus und sammelten sich auf dem Grund des breiten Grabens, wo sie sich sehr langsam erhitzten. Mark und Hirn brennen erst bei außerordentlich hohen Temperaturen. Diese wurden von den Leichen gewissermaßen in eigener Energie hervorgebracht. Die leicht brennbaren fettigen und haarigen Teile durchglühten die Masse. Da hätte man das Feuer nicht mehr löschen können, auch wenn man gewollt hätte. Die vielen Hirnmassen wirkten wie ein dauerndes Zündmaterial. Davon sprach aber weder im Lager noch im nahen Städtchen jemand, sie alle atmeten betroffen und in Kenntnis der Herkunft den Gestank verbrannten Menschenfleisches und Knochen ein, es war wie ein Material, ein klebriges Material, und sie würden es essen. Man musste es einatmen, es ging nicht anders.
Im Speichel fühlten sich Geruch und Geschmack an wie die billigen Kirchenkerzen, die aus tierischem Fett hergestellt werden. Wenn der Wind zwischen den niedrigen Tannen hindurchblies, hustete man verhalten, nach richtigem Husten hätte man ja tiefer einatmen müssen. Das seltsame Bewusstsein, dass man das Brennen menschlichen Fleisches wahrnahm und am folgenden Tag wahrscheinlich selbst brennen würde, ließ die Atmung stocken, die Augen tränen, obwohl es ja nicht viel gab, woran sie nicht gewöhnt waren.
Acrolein
stinkt so, eigentlich ein ungesättigtes, bei hoher Temperatur leicht polymerisiertes Aldehyd; und selbst wenn man weiß, welche chemischen und physikalischen Vorgänge im brennenden Organismus stattfinden, die Schleimhäute werden jedenfalls gereizt.
Große, starke Männer fürchteten Peix ebenso wie gebrochene, kraftlose Alte, die unter dem Vordach des Krankenreviers dank ihrer Benommenheit und Ohnmacht vielleicht noch eine glückliche halbe Stunde hätten haben können. Wenn er konnte, folterte er auch die. Sie wärmten sich im blassen Sonnenlicht, zusammen mit den starren Fliegen, die sich aus den Ritzen der dunklen Bretterwände hervorgewagt hatten. Die langen Eiszapfen tropften vor sich hin. Über dem Dreck und dem Gestank ihrer blutigen Ausscheidungen kauernd warteten sie, ob Kammer ein Wunder wirkte und ihnen einen Platz verschaffte. Die Fliegen hatten immerhin Kraft genug, ihnen in den warmen Nacken zu kriechen. Dort blieben sie stecken, oder sie fielen hinunter und surrten in den Borsten des wegrasierten Haars. Wenn Kammer jemandem ein gewisses Durchhaltevermögen ansah, gab er ihm ein Bett in der Krankenstube, zumindest erzählte man unter den Gefangenen, dass er dann ein Bett gab. Solange in einem der Betten nicht jemand starb, durften sie wenigstens in der angenehmen Wärme und großen Sauberkeit auf dem Steinboden liegen und in ihren Fieberphantasien auf die schönen, verschneiten Tannen hinausblicken.
Kammer achtete darauf, dass in den Krankenstuben trotz aller Überbelegung Stille und Ordnung herrschten, den ganzen Tag musste ihm der Peix dafür sorgen, allerdings war es im Chaos der letzten Tage auch in den beiden Krankenrevieren unmöglich geworden, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Es kam vor, dass jemand beim stillen, ergebenen Warten vor Schwäche einfach umkippte, ohne dass ihm jemand einen
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