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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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dies hier das zweite Lager, das er zusammen mit Peix durchstand.
    Es tat nicht weh, was sollte schon wehtun, aber es wollte ihm einfach nicht in den Kopf, dass er so gesund und wohlgenährt, wie er war, umkommen sollte. Sie hatten besprochen, was sie tun würden, falls sie beide davonkämen, wohin sie gehen würden, das fiel ihm jetzt ein. Und besprochen, was sie tun würden, wenn es der andere nicht schaffte. Er selbst würde der andere sein. Er wusste, dass er mit seinem Tod die Genossen in diesen letzten Tagen großen Gefahren aussetzte. Es würde wie ein Signal sein, die Berufsverbrecher würden wissen, dass sie wieder Oberwasser hatten. Falls nicht vorher die Engländer kamen, falls nicht die Häftlinge weggetrieben, abgeschlachtet wurden, was durchaus auch sein konnte, würde das Lager in einen Zustand zurückfallen, wie sie es zwei Jahre zuvor vorgefunden hatten. Die Lagerkommandanten wussten wohl, dass sie ohne Kommunisten nirgendshin kamen, denn nur die nahmen Rücksicht auf andere, trotzdem hatten sie ein Interesse, die Berufsverbrecher dauernd in der Überzahl zu halten. Sie sprengten die heimlich immer wieder erneuerten Zellen auf, schwächten sie gründlich, man konnte da ja auch Spitzel einbauen. Das war jetzt ein so gearteter Schlag, Kammer wusste es.
    Er empfand nicht das sinnlose, persönliche Streben als lächerlich, nicht den eifrigen Überlebenstrieb, nein, das nicht, am Leben bleiben, koste es, was es wolle, das verstand er, auch nicht die im Namen der Bewegung unternommene Bemühung, die Herrschaft der Berufsverbrecher umzustoßen, oder wenigstens die vielen unwissenden und in einen animalischen Zustand gehetzten Menschen ihrer Übermacht zu entziehen, das alles waren ja vernünftige Überlegungen, auf die er manchmal sogar richtig stolz war, sondern er empfand den Menschen als lächerlich, der mit ihm identisch war und das Jüngste Gericht weder zu erfassen noch zu umgehen vermochte. Er und Peix würden nicht nach Pfeilen gehen, um die Kirche, die sie natürlich noch nie gesehen hatten, nicht einmal ihren Turm, in die Luft zu sprengen. So hatten sie es vorgehabt. Damit sie an den Sonntagvormittagen nicht so friedlich und schamlos ihre Glocken läutete. Peix und er würden nicht nach Paris fahren. Wonach sie sich sehnten wie die Kinder nach Weihnachten. Der kleine Hugenotte, der in seinem früheren Leben vor allem auf Kunstschätze spezialisiert gewesen war, würde vielleicht allein hinfahren.
    Und da er in seinem Herzen der Zärtlichkeit immer einen gewissen Platz einräumte, konnte es schon deswegen nicht klappen. Er hatte es sich selbst zu verdanken.
    In der Baracke entstand für einen kurzen Augenblick tödliche Stille, erstarrtes Schweigen. Wenn auch etwas zeitverschoben, wurde sich inmitten des fernen Kanonendonners jeder für sich derselben Sache bewusst.
    Dass wahrscheinlich der Bulla gezinkt hatte.
    Vielleicht kam der Widerhall in den metallenen, tief herunterhängenden schweren Lampenschirmen von dem fein vibrierenden Knistern der stark leuchtenden Glühbirnen. Mit diesen Lampenschirmen waren schon mehrere totgeschlagen worden. Die Stille von rund vierhundert Leuten, das hat Gewicht. In den letzten Tagen waren zweimal gute hundert herbeigetrieben worden, solche, die im Chaos des Zusammenbruchs von einem gefährdeten Lager ins andere evakuiert wurden, im ganzen Lager waren es mehr als viertausend. Angeblich auf Befehl von Himmler durften sie weder ermordet noch der Feindeshand überlassen werden; was sich nicht ausführen ließ, aber immerhin darauf hinwies, dass die Heeresleitung auf eine glückliche Wendung hoffte. Es gab zu viele Tote für die zwei kleinen Krematorien. Sie wurden vor dem Nordtor wie Holzscheite zu einem Stapel geschichtet. Tagsüber taute es während einiger Stunden, die Stapel von nackten Leichen begannen zu wackeln, zu stinken, ein bleiches Wanken und Rutschen, und es kamen immer noch Zugänge mit erschöpften, vor Hunger brüllenden, von der Ruhr verdreckten Menschen. Kammer brauchte seine ganze Erfindungsgabe und Unbarmherzigkeit, damit sie in der ungeheuren Enge wenigstens auf ihrer Schlafstatt allein blieben und zu essen hatten; wahrscheinlich wurde das Leben mehrerer Menschen von den Schlägen des Kapo besiegelt, jener, die ahnungslos gerade in diese zwei Schlafstätten hatten hineinkriechen wollen.
    Die Neuen verstummten mit ihnen zusammen.
    Viele von ihnen glaubten, dass der, der von vierhundert Blicken stumm angestarrt wurde, tatsächlich König oder

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