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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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regelmäßige Menschenjagd nach. Oder er zwang sich, nicht zu sehen, was sein Freund trieb. Er sah ihm vieles nach, alles, was er ja doch sehen musste, in der Hoffnung, dass Peix mit seiner Hilfe eines Tages zur Besinnung kommen würde. In der Tiefe seiner Seele hatte er natürlich längst eingesehen, dass alle seine Berechnungen schändlich aufgegangen waren, denn dank dieses eiskalt intelligenten Jungen bekam er Einblick ins Leben der Berufsverbrecher, in ihre Denkweise, und ohne dieses Wissen hätte die kommunistische Zelle im Lager den Kampf gegen sie gar nicht aufnehmen können, doch mit seiner pädagogischen Strategie versagte er schmählich.
    Der Junge nahm von ihm nie das, was er gab.
    Aber wenn das nun einmal das einzige menschliche Wesen auf der Welt war, das er so liebte. Vielleicht liebte er ihn gerade wegen seiner Unzuverlässigkeit, Unberechenbarkeit. Der war nüchterner als alle, denen er je begegnet war, und dennoch zerbröselte sich seine Seele in der dunklen Tiefe des Wahns. In Wahrheit war es so, dass ihn Peix noch mehr liebte als er ihn, er liebte ihn ungezügelt, mit allen Aufwallungen seines Wahns. Vor so vierschrötigen Männern, wie Kammer einer war, hatte er im Übrigen Angst. Er gewöhnte sich nur schwer daran, dass ihn der Kammer nie schlagen oder strafen würde. In Buchenwald war sein Kopf beiseitegezuckt, wenn Kammer zu ihm trat oder ihn laut anredete. Kammer brachte es fertig, jedes Mal genüsslich aufzulachen, wenn er seinen Schreck sah, er verstand ihn ja; der Junge hingegen schämte sich.
    Mach dich nicht über mich lustig, Arschloch, brüllte er.
    Und wie wäre es, ihn tatsächlich einmal zu schlagen, dachte Kammer, ob das nicht vielleicht etwas nützte. Denn das Kopfzucken bedeutete, dass er abgesehen von Schlägen keinen Liebesbeweis akzeptierte.
    Lass mich in Ruhe, brüllte Peix. Spiel mit deinem Schwanz, wichs dir einen ab. Such dir ’ne andere Beschäftigung. Rück mir von der Pelle.
    Kammer lachte auch über sein Toben, so lange, bis Peix aufgab.
    Du Scheißkerl, zischte Peix gequält, du Drecksau.
    Aber wozu hätte er ihn auch schlagen sollen.
    So sehr hatte er noch nie jemanden geliebt, so sinnlos, so ziellos, so unbedingt. Als wollte er die Seele des anderen mit der eigenen Seele erlösen. Mit seiner ganzen Lebenserfahrung, seinem ganzen am Marxismus geschulten sozialen Wissen, seinem ganzen Messianismus liebte er ihn, liebte in ihm die Zukunft. Wie hätte er also zugeben können, dass er sich getäuscht hatte. Wenigstens den Bulla hätten sie umbringen sollen. Ich habe mich schwer getäuscht, sagte er sich. Trotzdem, er konnte nicht glauben, dass es nicht die Umstände sind, die die Menschen prägen. Und nicht ihre Geburt. In Buchenwald war es ihm noch gelungen, seine Genossen mit den Argumenten zu überzeugen, mit denen er sich selbst überzeugte, hier aber waren sie ans Ende des Menschlichen gelangt, und er sah ein, dass es nichts mehr gab, keine Zukunft. Jawohl, genau hier, inmitten des menschlichen Elends und der menschlichen Niedertracht, wolle er beweisen, in der Hölle wolle er beweisen, donnerte er vor den Genossen, dass niemand als Berufsverbrecher geboren wird.
    In der Hölle, wo sonst, meine lieben, guten Genossen.
    Denn dafür hatten sie doch einen Blick. Sie forderten wegen dem Peix sogleich Rechenschaft von ihm, und er musste sich aufs schlimmste gefasst machen.
    Er lachte sie herzhaft aus, was denkt ihr denn von mir.
    Die Genossen sahen ihm nicht an, wie schamlos er log. Was sie aber sahen, war ein Mensch, der in dieser Weise redete und lachte, weil er seine gemeingefährlichen Gefühle wahrscheinlich nicht zur Kenntnis nahm.
    Es war schon mehr als verdächtig, als sie am Sonntagnachmittag das Kadertreffen der kommunisischen Zelle ohne ihn einberiefen. Da im Bad hinter der Wäscherei, Bruno Apitz, Fritz Lettow, Gustav Wegerer, und erst als sie über ihn befunden hatten, ließen sie ihn aus der Pathologie kommen.
    Sie würden ihn aus dem Verkehr ziehen.
    Es war Frühling, die Sonne wärmte stark.
    Ein wunderbarer Frühling in den schamlosen Wäldern von Buchenwald. Man läuft umher und denkt, diesen harten Winter hätten wir überstanden. Man ist nicht allein. Er lief umher, dachte das, denn er war tatsächlich nicht allein. Nun muss sich alles, alles wenden. Vögel zwitscherten, tschilpten. Vor der Wäscherei stand eine riesige Eiche. Mindestens vierhundert Jahre alt. Man wollte wissen, es sei Goethes Baum gewesen, unter dem er sich mit Eckermann auszuruhen

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