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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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Königer hieß; sein neben ihm schlafender Kalfaktor musste die Schlafstelle auch mit niemandem teilen. Manche fügten seinem Namen der Bär hinzu. Doch nein, jetzt konnten sie sehen und hören, dass dieser hünenhafte Deutsche mit der Donnerstimme in Wirklichkeit Walter Kammer hieß, für die Eingesessenen der König des Pfeilener Lagers. Peix hätte sich wegen seines Wuchses und seiner Stimme auch vor ihm fürchten müssen, aber vor ihm fürchtete er sich nicht.
    Ein einfacher Kupferschmied, einer wie du und ich oder sonst jemand. Ein sanfter, entschlossener Kommunist, der im Januar neunzehnhundertneununddreißig in den schneestrahlenden Bergen von der Gestapo verhaftet worden war. Seither war er völlig ergraut. Vier Monate lang war er an die Wand seiner Zelle gekettet gewesen, mit den Händen nach hinten. Hätte er nicht einen Aufseher gehabt, der ihm aus Mitleid regelmäßig die Ketten lockerte, auf ein paar Stunden das Eisen abnahm, hätte man ihm bestimmt die Arme amputieren müssen. Seine Frau wurde festgenommen, unter der Folter bat sie ihn, mit einem detaillierten Geständnis dem Albtraum ein Ende zu setzen. Was blieb ihm da anderes übrig, als die Frau, die sich von denen hatte brechen lassen, aus seinem Herzen zu tilgen. Aus Mitleid mit ihr hätte er mehr als ein Dutzend Menschen aufgeben müssen. In seinen offenen Wunden schlüpften Maden aus, und bis sich der Lagerarzt bereit zeigte, ihn zu untersuchen, hatten sie aus seiner Schulter und seinen Schenkeln ein großes Stück herausgefressen. Er hinkte kaum merklich, den linken Arm konnte er nicht mehr richtig heben.
    Auch aus anderen, natürlich, bekamen sie heraus, was sie brauchten, so wie aus seiner Frau.
    Er hatte viel auf dem Kerbholz, hatte bedenkenlos getötet.
    Damals hatte er schon seit Jahren seine Genossen in der Nähe von Annaberg über die tschechoslowakische Grenze geschmuggelt. Die gelangten nach Prag oder direkt nach Moskau, oder wurden zwecks illegaler Tätigkeit von dort wieder zurückgesandt. Kammer saß zumeist in Chemnitz, leitete die Aktionen von dort aus, arbeitete mit Kurieren. Er unterhielt ein Netz aus Menschenschmugglern und Vertrauensleuten, die er persönlich nicht kannte, auch wenn er alles über sie wusste. Man hatte tatsächlich ein Dutzend Agenten auf ihn ansetzen müssen, bis man ihn eingekreist und auf frischer Tat ertappt hatte. Von denen hatte er zuvor noch zwei umgebracht. Als Letztes hatte er den kleinen Jungen eines ungarischen Genossen namens Kovách über die Grenze geschleust. Er musste ihn aus dem Jagdhaus der Wolkensteins herausholen, einem in den Wäldern des Erzgebirges versteckten, zwecks genetischer Forschung betriebenen geheimen Knabeninternat. Die heikle Aufgabe wollte er niemandem überlassen. Da waren ihm die Agenten schon auf Schritt und Tritt auf den Fersen. Das Kind kam glücklich drüben an, wo es von einem Auto erwartet wurde, er hingegen wurde an Schulter und Schenkel verletzt.
    Im Fallen hatte er noch zurückgeschossen und auch deutlich gesehen, wie der Wagen mit seinem im Schnee versunkenen, beschädigten Hinterrad weggefahren war.
    Jetzt aber sah er nicht mehr weiter.
    Auch im Lager hatte er es mit seiner wahnsinnigen Vorsicht, seinem unerschütterlichen Temperament weit gebracht.
    Lange Zeit wurde er im Pfeilener Lager als der Herr über Leben und Tod betrachtet. Im Ersten Weltkrieg war er noch einberufen worden, als Sanitäter, und so hatte er Typhus, Ruhr, Lungenentzündungen, Verletzungen und Verkrüppelungen schon zur Genüge gesehen. Notfalls ließen sich die SS -Offiziere von ihm operieren statt von den Ärzten unter den Häftlingen, und schon gar nicht von den SS -Chirurgen. Der eine war Alkoholiker, dem die Hände zitterten, wenn er nicht zu seiner Ration kam, der andere wahrscheinlich Morphinist, ebenfalls in Beschaffungsnöten; woher nehmen, sich wie viele Milligramm spritzen. Und jetzt musste Kammer doch zum Südtor, wegen dem Peix.
    Zuerst hatte man ihn nur die ekelhafteren septischen Fälle behandeln lassen, schon weil die beiden Chirurgen großen Schiss vor Ansteckung hatten. Kammer wurde zum Spezialisten für grässliche Vereiterungen, morgens musste er dutzendweise Wunden aufschneiden und reinigen. Nach dem Jahr auf der Buchenwalder Pathologie wusste er von der menschlichen Anatomie nicht weniger als ein ausgebildeter Arzt. Das Frauen- und das Männerlager hatten eine gemeinsame pathologische Abteilung, der einzige Ort, wo nicht nur Körperteile von Toten verschiedenen

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