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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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pflegte, der ja doch auf eine Art sein Freund gewesen war. Auf eine Art, wie der Peix sein Freund war. Als er das dachte, verzieh er auch Goethe einigermaßen, doch da fühlte er sich plötzlich, als hätte er für die entsetzliche Gleichgültigkeit der Schöpfung eine Erklärung gefunden.
    Wer ins Bad unterwegs war, musste vor der Wäscherei durch, aber außer Kammer durften sich nur ganz wenige auf den Wegen und Pfaden des Lagers frei bewegen. Das entsetzliche Bad war ein riesiger, weiß gekachelter Raum, an der Decke mehr als zweihundert Duschköpfe, aus mehreren Dutzend tropfte Wasser und hallte laut wider. Durch die mehrfach unterteilten Fenster, die an diesem Sonntagnachmittag offen standen, sah man von schräg oben auf die besagte Eiche; auf die Wälder, die sich noch weiter unten und um etliches weiter weg, jenseits des elektrisch geladenen Stacheldrahts, ins Endlose erstreckten. Die drei saßen da stumm auf einer Bank, wärmten sich im hereinfallenden Sonnenlicht Rücken und Schultern.
    Immerhin vermochte er sie zu überzeugen, dass sie den Kampf gegen die Berufsverbrecher nicht ohne diese würden führen können.
    Sie baten ihn hinauszugehen, während sie erneut berieten.
    Sie berieten lange und nahmen dann ihren vorherigen Beschluss zurück, währenddessen wartete Kammer im winterlich kühlen Schatten der Wäscherei und blickte über die Eiche und die Wälder hinweg in die Ferne. Er fröstelte vor Angst, auch wenn er nicht den Tod fürchtete. Dass ihn die Genossen umbringen könnten, machte ihm keine Angst. Es wäre eher wie eine Gnade gewesen. Er hoffte und wusste, dass die Genossen am Ende seine rationalen Argumente akzeptieren würden, aber das nützte nichts. Er zitterte dennoch. Sie konnten nicht anders, aber auch er konnte nicht anders. Keine Todesangst war es, sondern Lebensentsetzen, das machte ihm Angst, dass sie ihn verstoßen würden, worauf im Rückblick nicht nur sein ganzes Leben sinnlos würde, sondern auch sein Tod. Sein ganzes bisheriges Tun würde seine Bedeutung verlieren. Sein Tod hätte dann nicht den geringsten Aspekt eines Opfers.
    Jetzt hätte er sich doch verabschieden wollen; von seinem sinnvollen Leben.
    Gregor, sagte er leise, und das Besondere daran war, dass er in den vier Jahren ihrer seelischen und körperlichen Nähe den Vornamen des Jungen nie ausgesprochen hatte. Der Name klang in der Baracke so skandalös, dass ihm im selben Augenblick die frühlingshafte Wärme der Bretterwand einfiel, die nicht einmal die duftende Kälte der Waldnacht so weit hatte abkühlen können, dass man sie dort zwischen den beiden Gebäuden nicht am Körper spürte. Die skandalöse Wärme der Bretterwand und des Körpers. Beide standen mit heruntergelassener Hose im sternenlosen, tödlich gefährlichen Dunkel, hilflos und aufmerksam.
    Er wisse eine gute Stelle, hatte Peix etwa zehn Minuten zuvor auf der Pritsche geflüstert. Kammer dachte, es gehe um ein Versteck, für Esswaren oder so etwas, das Peix ihm jetzt verraten würde, und er ging ihm ein paar Minuten später nach. Sie wichen vorsichtig den Latrinen aus. Zweimal mussten sie warten, dann dem Scheinwerferlicht nachlaufen, einzeln, hintereinander, und hierher also führte ihn der Peix. Kammer folgte diesem Jungen mit wacher Aufmerksamkeit, auch mit Bewunderung, der war doch erst ein paar Wochen im Lager und bewegte sich schon, als lebte er seit Jahren hier. Kaum standen sie zitternd vor Aufregung in der von den beiden Gebäuden abstrahlenden Wärme, ließ Peix gleich die Hose hinunter und tastete zähneklappernd vor Erregung nach der Schnur von Kammers Hose. Es war, als sei die Lust in ihr Bewusstsein der Gefahr hineingewachsen, und man hätte nicht mehr sagen können, was stärker war. Kammer war eher überrascht, ließ den Peix machen, hörte alles, sehen konnten sie sich in dem Dunkel nicht. Im Dunkel gab es noch ein wärmeres, dichteres Dunkel, und diese andere Beschaffenheit des Dunkels war der andere. Es überwältigte sie mehr, als sie gedacht oder gewollt hätten. Peix suchte Kammers Hand und führte sie zu sich, was ihr Schicksal für eine Weile besiegelte, denn von da an waren beide berechtigt zu glauben, auch der andere wolle es. Warum sollte sich Kammer in einer solchen Situation einem Kind widersetzen. Und so bestanden diese wenigen bedeutsamen Minuten ihres Lebens aus zögernden, eiligen, aber doch aufeinander bezogenen Bewegungen, die sie ohne den andern nicht hätten machen können. Die ihnen nicht einmal in den Sinn

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