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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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Geschlechts in dickwandigen Konservierungsgefäßen zusammentrafen, sondern auch Häftlinge verschiedenen Geschlechts gemeinsam arbeiten und essen durften, ehemals namhafte Fachpersonen. Das Leben an diesem Ort war bequem und gemütlich, man kochte zusammen mit diesen kahlgeschorenen Frauen, durfte mit ihnen nach Belieben baden und plaudern. Kammer arbeitete neben einem betagten jüdischen Pathologen, einem ehemaligen Ordinarius der Prager Universität. Die Einrichtung und Ausstattung der beiden Sezierräume waren auf der Höhe einer modernen Klinik. Jeden Morgen mussten in den Baracken und den Leichenkammern des Krankenreviers die Leichen ausgesucht werden, die vererbte Deformationen oder sonstige physische Anomalien aufwiesen. Es mussten jüdische Leichen sein. Die nach einem wissenschaftlichen Gesichtspunkt interessanten Glieder und Organe wurden asserviert, dann, mit einem gründlichen und fachkundigen pathologischen Bericht versehen, nach Dahlem weitergeleitet, ins hochreputierte Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in der Ihnestraße. Die Pakete wurden mit zwei großen roten Siegeln verschlossen, Adressatin war eine gewisse Prof. Dr. Karla Baronin von Thum zu Wolkenstein. Das eine Siegel machte auf die Verderblichkeit der Ware aufmerksam, das andere auf die kriegswichtige Dringlichkeit der Sendung. Karla Baronin von Thum zu Wolkenstein, die sie sich als weibliche Version des Prager Pathologen vorstellten, klein, rund und bebrillt, bestätigte das Eintreffen der Sendung jeweils pflichtgemäß. Zuweilen stellte sie den Kollegen kurze Fragen, die große Aufmerksamkeit und Sachverständnis verrieten. Professor Nussbaum hingegen verriet nie mit einem Wort, dass die Baronin in Prag seine Studentin gewesen war, vielleicht erinnerte er sich auch nicht daran. Bei anderen Malen verlieh die Baronin ihrer Freude über die hohe Qualität der Proben oder die Tadellosigkeit der Präparate mit auffallend warmen Worten Ausdruck.
    Bis die entsprechende Erlaubnis aus der Ihnestraße kam, musste das ganze Autopsiematerial im Kühler aufbewahrt werden.
    Hin und wieder kam von der Baronin die Anweisung, ein Skelett abzukochen und im Benzinbad zu konservieren. Oder nicht abzukochen, sondern die Weichteile in Chlorkalklösung zu eliminieren; das war das längere Verfahren. Jedenfalls aber entstand zwischen ihnen eine kollegial und herzlich zu nennende Beziehung, wie sie der Situation und Aufgabe nicht im Geringsten entsprach.
    In Pfeilen wurden später auch die heikleren septischen Fälle Kammer überlassen, die aussichtslosen orthopädischen Eingriffe und Amputationen. Obersturmführer Eisele, der vor dem nahenden Zusammenbruch jegliche vorschriftsmäßige Haltung verloren hatte, war damals schon seit mehr als einer Woche unsichtbar. Niemand weinte ihm nach, aber wahrscheinlich lastete man nicht ihm an, dass in letzter Zeit durch die SS -Ärzte unmotiviert viele Häftlinge selektiert und vor dem Nordtor auf den Schnee hinausgeschleppt wurden. Von den Wachttürmen aus schossen die Posten nur die ab, die wegzulaufen versuchten, die anderen blieben da, bis die Reihe an sie kam. Die Berufsverbrecher im Lager meinten zu wissen, dass Eiseles Frau und zwei kleinen Kinder in einer Blitzaktion aus einer Offizierssiedlung am Stadtrand entfernt worden waren, noch vor dem Morgengrauen. Über Peix erreichte die Nachricht Kammer schon am folgenden Vormittag. Beide wussten, welche Gefahr ihnen drohte. Für die kommunistischen Zellen bedeutete es einen wesentlichen Schutz, dass Eisele den Peix regelmäßig einsetzte, doch Eisele stand mit den Berufsverbrechern noch aus anderen Gründen in einem engen und leidenschaftlichen Verhältnis. Eisele forschte an allen möglichen und unmöglichen Orten nach Gold, im Mund und im Enddarm eines jeden Toten, und er fand auch welches. Jetzt, da man ihn zusammen mit seinem gehorteten Gold hatte verschwinden lassen, hatten die Berufsverbrecher freie Bahn, gegen den nunmehr ungeschützten Kammer vorzugehen.
    Eigentlich wollten sie den Peix, lebendig.
    Im Leben des Lagers war das ein so bedrohliches Ereignis, dass die vierhundert Häftlinge bestimmt noch ziemlich lange in ihrem verstörten Schweigen verharrt wären, hätte nicht der Lautsprecher hineingeknistert. Wenn das geschieht, dann gibt es kein Halten mehr, wie man in solchen Fällen sagt. Wieder die berühmte Eingangsarie der Gräfin Mariza aus der Kálmán-Operette, sie erscholl von morgens bis abends, damit die

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