Parallelgeschichten
beiden auf das Geplauder des anderen zu achten. Sie durften auf die Hände, die Lippen, den Hals, die Stirn achtgeben, auf alles, was ihre Kleidung frei ließ. Die drei Kinder und die drei Frauen starrten mit geweiteten Augen auf die allmählich unwahrscheinlich werdende Gestalt der beiden. Die Gastgeberin und die zwei anderen Frauen löffelten betreten ihre Suppe und versuchten ein Gespräch über sogenannt belanglose Themen in Gang zu bringen. Demonstrativ nahmen sie die Sache nicht zur Kenntnis, um den beiden Gelegenheit zu geben, aus ihrem skandalösen Verhalten aufzuwachen und auf die Erde zurückzukehren.
Während die beiden mit dem Löffel in der Hand unaufhaltsam weiterredeten, um von dem, was mit ihnen offensichtlich passierte, abzulenken, sich wie auch die anderen.
In von der Schuers Haus setzte man sich nicht vor zwei Uhr zu Tisch, es wurde einfach und sparsam gegessen. Was ebenso zur strengen Familientradition gehörte wie die obligatorische Ungewürztheit der Speisen. Es hatten auch schon Köchinnen aus Überzeugung gekündigt, wenn sie den kritischen Augenblick erreichten und es nicht mehr über sich brachten, allen Geschmack und Charakter aus den Speisen zu verbannen. Die Herstellung des Sauerbratens gehörte dabei zu den umstrittensten Fragen in diesem Haus. Bei von der Schuers mussten die Köchinnen mit dem Essensgeruch so aufpassen, als gäbe es keine riechenden Rohmaterialien. Von der Schuer begab sich zwar nie in die Nähe der Speisekammer oder der Küche, aber der Geruch rohen Fleisches ekelte ihn dermaßen, dass für ihn schon die Vorstellung schrecklich war, sich mit rohem Fleisch unter demselben Dach zu befinden. Ein guter Sauerbraten aber muss vor dem Kochen anderthalb bis drei Wochen in einer sauren, würzigen Marinade liegen.
Es war unerträglich, alle empfanden es so, auf diesen steifen, hochlehnigen, kaum gepolsterten Stühlen festgenagelt zu sein, in Gesellschaft von Leuten, mit denen man nichts gemein hatte. Baronin Karla begriff nicht, was für Gefühle sie noch anderthalb Stunden zuvor für dieses empörende Frauenzimmer hatte haben können, die verdeckt doch mit geheuchelter Naivität ihre Intelligenz und hat überhaupt, abgesehen von ihrem unangenehm schneidenden, hysterischen Stimmchen, schon als kleines Mädchen nichts Kleinmädchenhaftes gehabt. Aber an ihrer frühreifen Schönheit konnte sich die Baronin auch jetzt nicht sattsehen. Plötzlich hatte sie Imola im Verdacht, noch nie von entarteter Kunst gehört zu haben und deshalb die modernen Kunstwerke so zu bewundern, und außerdem hatte die ihre Unschuld vielleicht schon längst verloren.
Eine Verlobte benimmt sich gegenüber dem erstbesten Mann nicht so.
Freifrau Erika verachtete die hübsche junge Dame, bemitleidete sie auch ein wenig.
Die ist verrückt, sagte sie sich, was auch gleich eine Entschuldigung ihres Gastes war, und in diesen peinlichen Minuten formulierte sich in ihr eine Erkenntnis, die sie schon lange heimsuchte und die sie immer wieder von sich wies, dass nämlich der Vater ihrer Kinder kein Mensch war, sondern, wie sie schon immer gewusst hatte, ein Tier. Ein Tier, das ganz offensichtlich am liebsten vom häuslichen Tisch aufgestanden wäre, um die daherzwitschernde verrückte Frau bei der Hand zu packen und mit ihr zusammen seine wunderschöne Familie und sein glückliches Leben besinnungslos zu verlassen.
Keiner von ihnen konnte mit seinen überwältigenden Emotionen etwas anfangen, sie konnten ja ihre Disziplin nicht einfach aufgeben.
Freifrau Erika hatte sich die solchen Fällen vorbehaltenen und höchst hilfreichen spießbürgerlichen Floskeln schon mehrmals hergesagt: Ich träume, das darf doch nicht wahr sein, es ist alles nur ein schlechter Traum. Damit versuchte sie, die peinliche Realität nicht zur Kenntnis zu nehmen, sie wegzureden, manchmal helfen die vorgefertigten Formeln auch über aussichtslos scheinende Situationen hinweg. Auch sie benahm sich zwanghaft. Redete laut über die anderen Stimmen weg, sagte etwas von der Suppe, dass die von der Schuers Zimt oder Nelken in der Fruchtsuppe nicht ausstehen können, das sei am Anfang schon merkwürdig gewesen, es sei ja für eine junge Frau nicht immer leicht, diesen Launen, diesen Familienwünschen ihres Gemahls zu folgen, etwas vom bis in den November üppig blühenden Rosengarten, etwas vom durchdringenden Geruch, der vom Institut herüberströme, er komme vom ganzen wissenschaftlichen Areal, auch aus der Kleidung ihres Gemahls, aus der
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