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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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und gemessen daran hatte das, was sie sagten oder verschwiegen, keine besondere Bedeutung. Sie konnten nicht voneinander lassen. André Rott fiel das nachtschwarze Haar feucht in die Stirn, er zog ein wenig misstrauisch die dichten, langen Augenbrauen zusammen, und mit den lebhaften dunklen Augen unter den besendichten schwarzen Wimpern, mit denen er so viele Menschen sofort für sich einnahm, ließ er Lippays Blick nicht los, der seinerseits aus der Tiefe heraufstrahlte, immer etwas stechend und irgendwie beleidigt oder vorwurfsvoll, womit Ágost gerade die abschreckte, die er von der Richtigkeit seiner Worte überzeugen wollte.
    Ich habe keinen Grund zur Angst, sagte er leise. Das große Ereignis will ich vielleicht gar nicht abwarten. Aber selbst wenn ich davor Angst hätte, wäre das kein besonderes Vergehen. Du solltest mir gar keine Vorwürfe machen. Im Übrigen ist es gefährlich, ein Kunstfehler sozusagen, Ängsten Obdach zu gewähren, die man nicht einmal sich selbst einzugestehen wagt.
    Sie waren ernüchtert, ernst geworden, trotz aller Anstrengung ließ sich der leichte Ton nicht wiederherstellen.
    So sehe ich das, András.
    In Männergesprächen keine seltene Erscheinung. Wenn der obligate leichte Ton verflogen ist, wenn man mit nichts mehr aufschneiden kann, entsteht eine allgemeine Verlegenheit, und wenn keiner damit umgehen kann, läuft das ernsthaftere Gespräch auf Grund. Ágost fühlte mit Recht, dass ihm André Vorwürfe machte, und dass auch er ihm Schwerwiegendes vorgeworfen hatte.
Peu à peu
verstand er, was der andere meinte. Dass er nicht überrascht sein solle, wenn er ihn nicht länger beschützen könne und wolle. Dass er nicht überrascht sein solle, wenn auch andere seinen Wankelmut fürchteten, und seines Erachtens sei der Augenblick nicht mehr weit, wo man sich auch auf offizieller Seite fragen werde, ob die Sache nicht irgendwie anrüchig sei oder sogar stinke.
    Ob er nicht eventuell ans andere Ufer geschwommen sei.
    Tatsächlich hatte Ágost in den letzten Wochen mit dem unvermeidlichen Gedanken gespielt, hinüberzuschwimmen, und deshalb traf ihn Andrés Blick.
    André Rott hingegen musste sich unter dem vorwurfsvollen Blick seines Freundes und Untergebenen fühlen, als unterstütze er mit seinen Ansichten die drohende Vernichtung der Menschheit nicht nur, sondern bereite sie auch vor.
    Oder als hätte er die Untersuchung gegen Ágost angestrengt, von der er in der Tat wusste.
    Dabei hatte er seinem Freund gerade das sagen wollen, dass eine Untersuchung im Gang war, er solle sich in Acht nehmen.
    Sie hätten etwas entscheiden müssen, worüber sie seit Jahr und Tag Pseudodiskussionen führten, aber nie zu einem Schluss gelangten. Das schlechte Gewissen, das sie mit vorwurfsvollen Blicken beieinander hervorriefen, betraf eigentlich nicht das, was sie redeten beziehungsweise verschwiegen, sondern das, was sie nicht einmal mit heimlichen Zeichen anzudeuten gewagt hätten. Es betraf das Wesentliche ihrer Berufung, die Frage, ob alles, was sie bis dahin mit ihrem Leben getan hatten, einen fassbaren Sinn und eine Erklärung hatte, haben würde, haben und finden konnte. Falls sie sich getäuscht hatten, falls es keine Zukunft gab, die die in der Vergangenheit notwendig und zufällig begangenen Untaten rechtfertigte, dann
à quoi bon vivre
, hatte es dann einen Sinn, am Leben zu bleiben, und was sollten sie dann mit dem Rest ihres Lebens anfangen. In Genf oder in London war es schließlich etwas anderes, Sozialist oder Kommunist zu sein und sich zu freuen, dass in entfernteren Gefilden die Diktatur des Proletariats herrschte, als mit diesem Bewusstsein in ein Budapest zurückzukehren, wo die Welt endgültig abgestellt war wie das Wasser in einem tropfenden Hahn.
    Kovách war der Meinung, dass diese beiden zwar brave Jungs waren, aber von nichts eine Ahnung hatten.
    Sie diskutierten über abstrakte Fragen, die er selbst weitgehend nicht verstand.
    Bei ihm tauchte viel eher routinemäßig die Frage auf, ob man sie überhaupt am Leben lassen würde, ob man bei der Firma nicht darüber nachdachte, auf welche Weise man sie aus dem Weg räumen konnte, und wie lange das noch so weitergehen würde.
    Der lange Schatten des zwanghaften und unverbrüchlichen Schweigens, dem sie nur in besonderen Stunden ausweichen konnten, lag jedenfalls wieder über ihnen.
    Ágost kämpfte sowieso schon mit regelmäßig wiederkehrenden Anfällen von Depression, für die er keine Arznei fand, so wenig wie seine Freunde.

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