Parallelgeschichten
verborgen waren. Wenn er das Bild bewunderte, bewunderte er eigentlich seinen eigenen Ehrgeiz. Wenn er einmal das geheime System in der Tiefe durchschaute, die Verkettungen, die Struktur oder was immer, das, wodurch die Kenntnis der wichtigen Dinge für einige verdeckt bleibt, während sie für andere schamlos aufgedeckt wird, beziehungsweise die Dynamik von Verdecken und Aufdecken, dann wüsste er etwas, würde etwas verstehen.
Die Welt ist unauslotbar in ihren Glücksfällen. Na ja, auch in ihren unglücklichen Kombinationen, in allem, was sie nicht zeigt. An seinem ersten Berliner Nachmittag, als er die tückisch lange und lockere sandige Steigung endlich hinaufgeradelt war und auf dem von hohen Kiefern gesäumten Hügelgrat seinen Weg fortsetzen wollte, wäre ihm vor Staunen der Mund offen geblieben, wenn nicht gleichzeitig sein Rad ins Schwanken geraten wäre; der Schwung schob ihn vorwärts, er wäre um ein Haar der Länge nach hingefallen. Was peinlich war, es sahen mehrere zu, zumindest eine Frau und ein älterer Mann, Ungeschicklichkeiten solcher Art sind ja meistens ziemlich lächerlich. Am Ende blieb er auf den Beinen, an die Lenkstange geklammert, während ihm die Pedale gegen Knöchel, Schienbeine und Waden schlugen und sie abschürften. Es tat weh, ein scharfer Schmerz, doch hätte er fast vor Erstaunen aufgeschrien; er stand mitten in Leistikows Gemälde. Immer hatte er gemeint, es sei bloß ein Bild. Nie hätte er gedacht, dass es auf der Welt wirklich einen solchen Himmel, eine solche Spiegelung, eine solches Helldunkel gab.
Zu den optischen Eigenheiten des berühmten Leistikow gehörte, dass jeder, der ihn sah, ein Quadrat zu sehen meinte, obwohl Breite und Höhe verschieden waren. Das war das Erste, was Döhring am Entstehungsort des Bilds begriff. Der sorgfältig ausgeführte leere Himmel nahm die Höhe ein, der reine, wolkenlose, kristallene, dichte Himmel, die Breite hingegen die schattenerfüllte schwere Erde, aus deren tiefem Schlund der Spiegel eines reglosen kleinen Sees bleiern und gleichgültig zum Himmel aufsah. Der Himmel hier war genauso, seine Substanz, seine Masse, und genauso zog der reglose Wasserspiegel des Sees die luftige Perspektive des Unendlichen in die schwerdunkle Tiefe, riss sie genauso an sich. Leistikow musste das Bild genau von der Stelle aus gemalt haben, an der Döhring jetzt stand.
Vielleicht zur gleichen Stunde des gleichen Tags des gleichen Monats, auch wenn man nicht sagen konnte, dass sich in den dazwischen vergangenen hundert Jahren nichts geändert hatte.
In dem tiefen Tal, am steilen Ufer des Sees standen und lagen nackte Menschen im letzten, rötlich matten Sonnenschein. Nicht viele, einige Paare, andere einzeln, in diskreter Entfernung zueinander.
Ein feingliedriger, braun gebrannter Mann stand bis zu den Knöcheln im Wasser, dem matten Sonnenstrahl zugewandt; aus der Hüfte leicht zurückgedreht, vom Ufer aus, rief ihm gerade sein Freund etwas zu. Um die Silhouette dieses schlanken sonnenanbetenden Körpers glänzte das Licht, es rutschte an seinen Brustmuskeln hinunter, an seinem von der halben Drehung eingezogenen Bauch und leuchtete durch das dichte Gekräusel, die Wellen und losen Büsche der Behaarung. Der Freund hingegen war ein schwerer Riese, dessen flaumige weiße Haut nie mit der Sonne in Berührung gekommen zu sein schien. Während er in einer großen roten Tasche kramte, rief er kurze, unverständliche, aber wahrscheinlich scherzhafte oder anzügliche Bemerkungen. Döhring ließ das Rad zu Boden kippen und setzte sich auf den Rand des steilen Abhangs. Scheinbar nur für einen Moment, und während er herumgaffte, rieb er an seinen zerschlagenen Knöcheln, seinen schmerzenden Schienbeinen und Waden, zerstreut zuerst, dann zog er, so weit es ging, die engen Hosenbeine herauf, um zu sehen, wie er zugerichtet war. Er sah noch, wie der braun gebrannte Mann nur gerade mit einer Schulter zuckte, als interessiere ihn nicht mehr, was sein Freund sagte, und sich beleidigt wieder wegdrehte. Döhring musste nachsehen, er hatte das Gefühl, der Stoff unter seinen Fingern gleite über klebriges Blut.
Die Schürfung blutete nicht stark, sie sonderte eher Feuchtigkeit ab.
Aber nicht wegen des Schmerzes, nicht ausschließlich aus Besorgnis sah er nach seinen Beinen, er spielte es auch ein wenig der Frau vor, die schon auf sein Gestrauchel aufmerksam geworden war und ihn gleich, ihre großen Zähne entblößend, ausgelacht hatte; und auch, um nicht alle
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