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Paranoia - Hoer Auf Ihre Stimme

Paranoia - Hoer Auf Ihre Stimme

Titel: Paranoia - Hoer Auf Ihre Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Gregory Browne
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in kitschigen Frauenfilmen, wie in dem, wo Demi Moore Tontöpfe fabriziert und mit feuchtem Blick diesen Patrick Dingsda anglotzt, der ihr ewige Liebe schwört. Geister kamen aus Hollywood, und das, was Solomon an diesem Morgen gesehen hatte, kam eindeutig aus Louisiana. Nicht aus dem Louisiana, wo es ›po' boys‹-Baguettes, Zydeco-Musik und betrunkene Schulmädchen gab, die am Mardi Gras blankzogen. Auch nicht aus dem Louisiana der Schrumpfköpfe und Wunderperlen. Es kam aus dem Louisiana seiner Kindheit, mit dem ihn sein Großvater vertraut gemacht hatte. In dem überall Böses lauerte und der Glaube gleichermaßen Waffe und Trost war. In dem die göttliche Vision manchmal vom dumpfen Klang einer Trommel und dem Gestank verwesenden Fleisches untermalt wurde.
    Als Solomon neun Jahre alt war, hatten er und sein jüngerer Bruder Henry die Deckel von Wasserflaschen gesammelt, unter die Sohlen ihrer Turnschuhe geklebt und im French Quarter für ein paar Nickel oder Dimes gesteppt. Eines Tages waren sie gerade mit den Taschen voll Kleingeld auf dem Rückweg nach St. Thomas, da entdeckte Solomon eine alte Radkappe, gerade richtig, um das Geld darin zu sammeln. Henry war erst sechs und hatte etwa so viel Verstand wie ein Cockerspaniel. Er lief einfach auf die Straße und wurde von einem Polizeiwagen erfasst. Solomon sah, wie sein kleiner Bruder unter die vordere Stoßstange geriet und unter dem Auto herumgewirbelt wurde wie Socken in der Wäscheschleuder. Als Henry schließlich am anderen Ende des Wagens ausgespuckt wurde, sah er aus, als habe man ihm jeden einzelnen Knochen im Leib zermalmt. Dasselbe galt für seinen Kopf.
    Die Nickels und Dimes lagen überall auf der Straße verstreut. Der Cop bremste scharf, stieß die Tür auf und taumelte aus dem Wagen. In der Hand hielt er eine Flasche. Er warf einen Blick auf Henry, übergab sich am Straßenrand, sprang wieder in den Wagen und raste davon.
    Wenig später tauchten noch ein paar Cops auf, und Solomon erzählte, was geschehen war. Dann kamen seine Mama und sein Großvater, und das Geheule und Geschrei war groß, er mochte gar nicht mehr daran denken.
    Den Cop, der Henry auf dem Gewissen hatte, fand die Polizei nie. Sie hatte auch nie wirklich nach ihm gesucht, sagte sein Großvater. Doch eines Abends, kurz nach der Beerdigung, steckte er Solomon ins Bett, küsste ihn auf die Stirn und sagte: »Mach dir keine Sorgen, mein Junge. Henry hat jetzt den Rhythmus auf seiner Seite. Und wenn die Trommeln geschlagen werden, wird er auferstehen, und er wird nicht eher haltmachen, bis die ganze Welt im gleichen Takt ist und er den erwischt, der ihm Unrecht getan hat.« Damals wusste Solomon nicht genau, was sein Großvater meinte, doch er war klug genug, um zu begreifen, dass es nichts Gutes zu bedeuten hatte. Solomon glaubte, er sei derjenige gewesen, der Henry Unrecht getan hatte. Wenn er nicht mit dieser Radkappe herumgespielt hätte, wenn er auf seinen Bruder aufgepasst hätte, wie seine Mutter es ihm eingeschärft hatte, dann würde Henry noch leben und jetzt neben ihm im Bett liegen.
    Solomon dachte daran, wie sehr er seinen Bruder vermisste, und begann zu weinen. Er wünschte beinahe, der dumme kleine Zwerg möge aus seinem Grab auferstehen und ihn heimsuchen, denn er war derjenige, der es verdiente, zu sterben. Er weinte stundenlang, und das fast einen Monat lang jede Nacht. Doch nie ertönten die Trommeln, und Henry erschien nicht. Solomon konnte nicht leugnen, dass er ein wenig erleichtert darüber war.
    Ein Jahr später, fast genau an Henrys Todestag, betrachtete er über Großvaters Schulter hinweg die Times Picayune und entdeckte das Foto eines Polizisten, der sich in der städtischen Leichenhalle das Gehirn weggeblasen hatte. Der Cop hatte dort spät am Abend einen Einbruch untersuchen wollen. Niemand wusste, warum er sich erschossen hatte. Solomon erkannte ihn sofort und zeigte ihn Großvater. Dieser nickte. »Siehst du«, sagte er mit sanfter Stimme. »Dein Bruder hat seine Sache gut gemacht.«
    Nachdem Solomon sein armseliges Leben Sechsundsechzig Jahre lang in Louisiana gefristet hatte, wurde er schließlich von Hurrikan Katrina vertrieben. In der Nacht, in der die Dämme brachen, saß er wegen Trunkenheit und Ruhestörung in einer Gefängniszelle und beobachtete durch das Gitterfenster Katrinas Zerstörungswut.
    Er wusste nicht, ob die Bullen ihn vergessen oder absichtlich zurückgelassen hatten, doch als der Sturm richtig zu toben begann, waren sie längst

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