Paranoia - Hoer Auf Ihre Stimme
allerdings sicher, dass sie vollkommen wach war.
Sie zitterte wieder und erinnerte ihn damit merkwürdigerweise an den alten Hund, den er einmal gehabt hatte. Eine schwarze Akita-Hündin, die an einer kognitiven Störung litt. Hunde-Alzheimer. Manchmal fing die Hündin unkontrolliert an zu zittern, mit gesenktem Kopf, den Schwanz zwischen die Beine geklemmt, so als habe sie vergessen, wer und wo sie war, und könne den Weg nach Hause nicht finden.
Als Tolan Jane X zittern sah, überlegte er, ob Blackburn nicht doch recht hatte und sie drogensüchtig war. Ihr unberechenbares Verhalten in Kombination mit dem krampfhaften Zittern konnten erste Entzugserscheinungen sein. Oder aber Simm lag richtig, und die Symptome waren das Resultat eines Traumas. Ein schweres Trauma kann zahlreiche, nicht vorherzusagende psychologische und physische Reaktionen auslösen. Diese Frau hatte möglicherweise einen brutalen Mord beobachtet oder war sogar daran beteiligt gewesen.
Er beugte sich vor. »Wenn Sie mir Ihren Namen nicht sagen können oder wollen, wie soll ich Sie nennen?« Erneut wimmerte sie etwas Unverständliches. »Na gut«, sagte Tolan. »Fürs Erste also keinen Namen. Versuchen wir etwas anderes.«
Obwohl er Vertrauen in Simms Untersuchung hatte, wollte er ihre Arme auf Einstiche überprüfen. Er hoffte, keine allzu heftige Reaktion damit auszulösen, und dachte kurz daran, Cassie zu Hilfe zu rufen, entschied sich dann jedoch dagegen. Die Frau wirkte auf ihn nicht bedrohlich. Nicht im Geringsten.
»Dr. Simm hat Sie sehr gründlich untersucht, um festzustellen, ob Sie körperlich gesund sind, doch es gibt noch ein paar Dinge, die ich gern abklären würde. Deshalb werde ich Sie jetzt berühren. Verstehen Sie?«
Diesmal war kein Geräusch zu hören.
Sie hatte beide Arme immer noch eng um den Körper geschlungen. Er wartete einen Augenblick lang und nahm dann vorsichtig die ihm zugewandte rechte Hand, mit der sie ihre linke Schulter so fest umklammerte, dass die Knöchel weiß hervortraten. Als er sie berührte, zuckte sie zusammen und rückte von ihm ab. Tolan gab ihr etwas Zeit, bis sie sich ein wenig entspannt hatte.
»Versuchen wir es noch einmal«, sagte er. »Ich verspreche, dass ich Ihnen nicht weh tun werde.«
Als er sie erneut berühren wollte, erklang kaum hörbar eine dünne, brüchige Stimme: »Eine Lüge steht auf einem Bein, die Wahrheit auf zweien …«
Tolan erstarrte, wieder überkam ihn dieses Gefühl von Vertrautheit. Wer war diese Frau?
»Eine Lüge steht auf einem Bein, die Wahrheit auf zweien …«
Sie sprach sehr leise, doch Klang und Tonfall ihrer Stimme gingen ihm durch Mark und Bein, trafen einen wunden Nerv.
»Zwei mal vier ist eine Lüge«, murmelte sie. »Zwei mal vier ist eine Lüge …«
Endlich fand er die Sprache wieder und sagte: »Manchmal scheint es, als lebten wir in einer Welt voller Lügen. Und Lügen schaffen nichts als Schmerz. Sogar die kleinen Notlügen.« Er wartete. »Hat jemand Sie belogen? Sie verletzt?«
Sie flüsterte etwas, doch so leise, dass er ihre Worte nicht verstand. Er war sich nicht sicher, ob sie auf seine Frage geantwortet oder den Satz wiederholt hatte.
»Sprechen Sie mit mir«, sagte er. »Sagen Sie mir, wer Sie verletzt hat.«
Noch einmal berührte er ihre Schulter, und dieses Mal fiel ihre Reaktion weniger heftig aus. Sie bewegte sich, öffnete die Arme und drehte sich langsam zu ihm um. Das zerzauste, feuchte Haar fiel ihr aus dem Gesicht, als sie für einen kurzen, klaren Moment zu ihm aufblickte. Ihre Stimme klang sanft und war von stillem Schmerz erfüllt.
»Du«, sagte sie. »Du hast mich verletzt.«
Tolan sträubten sich die Nackenhaare. Er sprang auf und wich zurück. Er musste den Verstand verloren haben. Das Gesicht, das ihn ansah, mit wildem, unausweichlichem Blick –
– war das von Elizabeth Abigail Tolan.
Abby.
Seine verstorbene Frau.
10
Blackburn hatte es vorausgesehen, noch bevor es tatsächlich geschah. Er stürzte aus dem Beobachtungsraum zur Tür der Einzelzelle. »Machen Sie auf. Schnell!«
Hastig tippte Cassie den Sicherheitscode ein, die Verriegelung piepte leise und sprang auf. Blackburn riss die Tür auf. Die Psycho-Tante war schon zum Angriff übergegangen und wollte Tolans Hals umklammern. Aus einem unerfindlichen Grund stand Tolan einfach nur da. Wie ein unerfahrener Jäger, der jeden Moment von einem Löwen verspeist wird.
Blackburn stürzte ins Zimmer und schlug ihr kräftig mitten ins Gesicht. Sie heulte
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