Paranoia - Hoer Auf Ihre Stimme
alles erklären sollte. Dann sagte er: »Man könnte es als Religion bezeichnen, als Lebenseinstellung oder als den Aberglauben eines alten Mannes – es spielt keine Rolle. La manière du rythme ist, was es ist, das kann niemand auf dieser schönen Erde bestreiten.«
»La manière du … was?«
»Die Art des Rhythmus.«
Sie wirkte skeptisch. Als sei ihr gerade jemand begegnet, der ihr eine Zeitschrift von religiösen Fanatikern andrehen wollte. Er hatte sie in eine fremde Welt geführt, und Ablehnung war ihr erster Impuls.
Die meisten, denen der Rhythmus bekannt war, waren damit aufgewachsen, so wie Solomon, man musste sie nicht erst überzeugen. Mit Außenstehenden jedoch verhielt es sich anders, denn natürlich reagierten sie zunächst skeptisch. Einmal wollte er Clarence davon erzählen, doch der hatte ihn nur schräg angesehen und gefragt: »Was zum Teufel hast du geraucht, Mann?«
Doch wenn Solomon recht hatte, wenn er diese Frau richtig eingeschätzt hatte, musste sie zwar ihre Zweifel überwinden, aber dann wäre sie sicher offen für das, was er ihr erzählen wollte. Er wählte seine Worte daher mit Bedacht. »Menschen, die glauben, die sich sicher sind, wissen, dass der Rhythmus wie ein Herzschlag ist. Er hält uns am Leben. Und im Leben geht es stets um Timing und Balance.«
»Das stimmt, ganz gleich, welcher Glaubensgemeinschaft man angehört.«
Solomon nickte. »Aktion und Reaktion. Jede unserer Handlungen, jede Bewegung bedingt eine Gegenbewegung. So hält sich die Welt im Gleichgewicht.«
»Eine Art Karma«, sagte sie.
Solomon schüttelte den Kopf. »Mit dem Karma ist es anders. Da geht es darum, dass sich die Menschen überlegen, was sie tun. Sei gut, und du erntest Gutes. Sei schlecht, und du bekommst Schlechtes zurück.«
»Dann verstehe ich es nicht.«
»Der Rhythmus gibt nichts darauf, was man tut, solange alles im Gleichgewicht ist. Aber wenn nicht, unternimmt er, was immer nötig sein mag, um es wieder herzustellen.«
»Was hat all das mit Ihrer Freundin zu tun?«
»Es ist kein Zufall, dass sie hier ist«, erklärte Solomon. »Sie ist hier, weil der Rhythmus will, dass sie hier ist. Dass wir alle hier sind, um die Dinge wieder auszugleichen.«
»Welche Dinge?«
»Das weiß ich auch nicht genau. Aber die Frau in der Einzelzelle ist nicht die, für die Sie sie halten. Wir nennen jemanden wie sie un emprunteur .«
»Wie?«
» Un emprunteur . Einen Entleiher. Eins der Kinder der Trommel.«
Wieder sah Lisa ihn skeptisch an. Solomon wusste, er bewegte sich auf dünnem Eis. Befand sich schon jenseits der unsichtbaren Grenze, die die meisten Menschen nicht zu überschreiten bereit waren. Er musste der Krankenschwester zugute halten, dass sie ihn nicht auslachte und aufsprang, um ihn hinauszuwerfen. Wahrscheinlich hatte sie schon Absurderes gehört.
»Sind Sie Christin?«
Sie zuckte die Achseln. »Mehr oder weniger.«
»Dann glauben Sie bestimmt, dass die Seelen der Menschen nach dem Tod ihre Reise fortsetzen.«
»Das nehme ich an.«
»Manchmal jedoch, wenn jemand stirbt, bevor seine Zeit gekommen ist, wenn der Tod den Takt aus dem Gleichgewicht bringt und den Rhythmus stört, ist so jemand mitten im Nichts gefangen, auf der Suche nach einer Möglichkeit, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Und eine Möglichkeit besteht darin, sich ein wenig Zeit unter den Lebenden zu borgen.«
»Sie glauben, das hat Ihre Freundin getan?«
»Wenn ich damit richtigliege, ist die Frau in der Einzelzelle nicht meine Freundin«, sagte Solomon. »Jedenfalls nicht mehr.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Oh, kann sein, dass sie ein wenig wie Myra aussieht. Dass sie einige ihrer Merkmale und Kennzeichen hat, doch Myra ist nur das Gefäß. Jemand anderes hat von ihrem Körper Besitz ergriffen, und sie verändert sich.«
Lisa zögerte. »Verändert sich inwiefern?«
»Ihre Augenfarbe vielleicht. Oder die Nase ist kleiner als vorher, die Finger sind schlanker, die Schultern breiter. Allmählich nimmt sie die Gestalt des Entleihers an. Dieser Vorgang ist nicht leicht. Er ist sehr schmerzhaft und kann stundenlang dauern, manchmal sogar tagelang. Es hängt davon ab, wie gastfreundlich der Wirt ist, und wie vertraut der Entleiher mit den Arten des Rhythmus ist.«
Verwirrt sah Lisa ihn an. »Hätte Ihre Freundin da nicht ein Wörtchen mitzureden?«
»Das ist es ja, was ich Ihnen sagen will«, antwortete Solomon. »Ein Entleiher kann nur dann Besitz von jemandem ergreifen, wenn der Wirt entweder zu
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