Paranoia
diese Stimmung verfliegt, und das Leben ist stärker. Ich muss mich jetzt aber auf etwas ganz anderes gefasst machen. Von nun an bin ich dauernd am Rande einer drohenden Gefahr. Ich selbst bin die Gefahr, vor der ich mich schützen muss.
Ich verharre in meinen Gedanken, als ich zwischen zwei Pizzahappen meine vierte Insidon des Tages einnehme. Eine Überdosis jagt die nächste.
Meine Vergangenheit verhindert, dass ich in der Gegenwart etwas anderes sehen könnte als einen Schauplatz meiner Auseinandersetzung mit früher. Und mir wird immer mehr klar, wie unfähig ich bin, sie hinter mir zu lassen. Sie bricht sich endgültig Bahn. Jetzt bin ich dran.
Der letzte Bissen Pizza Napoletana verschwindet in meinem Mund. Die habe ich hinter mir. Das sollte reichen. Ich verursache Kaugeräusche. Vereinzelte Schmatzer.
Der Sultan wedelt gleichmäßig mit seiner Schwanzflosse und schaut mich blasiert an, als wolle er sagen: »Ätsch, ich sehe was, was du nicht siehst!« Er, dieses ewig stumme Wesen, kommt mir gerade derart vorlaut vor, dass ich ihm am liebsten über den Mund fahren würde. Seine Gegenwart löst eine eigenartige innerliche Unruhe bei mir aus. Ich weiß, wäre er ein Mensch, würden wir uns sofort streiten.
Im Fernseher sieht man jetzt den Brückenpfeiler in dem Pariser Autotunnel, an dem der Mercedes mit Lady Di zerschellte. Sie kann nichts dafür, dass sie so verehrt wurde. Es sind die Knallköpfe da draußen.
Ich klatsche zweimal längs in die Hände, vor und zurück, um Teigkrümel zu beseitigen, falte die Pizzaschachtel zusammen und lege sie in den Abfalleimer. Lehne mich gegen die Kante der Arbeitsplatte neben dem Herd und löffle lustlos in einem Naturjoghurt herum, den Ilse mir immer als Zwölferbox in den Kühlschrank stellt. Und noch bevor ich unwillkürlich die Aktion mit Patrick rekapituliere und mich frage, ob Fynn wirklich einen Nutzen davon haben wird, klingelt es. Der Knopf wird so lange gedrückt, dass man zwar das »Ding« hört, aber erst sehr viel später das »Dong«. Uraltklingel.
All meine eben gemachten Überlegungen verstaue ich in den tieferen Regionen meines Kopfes, um bei passender Gelegenheit darauf zurückzukommen. Ich gehe durch den Flur und betätige den Türöffner. Ich öffne die Wohnungstür. Esthers Schrittgeräusche eilen ihr durchs Treppenhaus voraus.
Ist es ein ungeschriebenes Gesetz, dass man sich am Abend nach der ersten gemeinsamen Nacht gleich noch mal trifft, wenn man es ernst miteinander meint? Ist das ein weiteres Ritual, um es aller Welt gleichzutun? Lässt sich wenigstens der Schleier dieses Geheimnisses lüften?
Noch bevor Esther die Türschwelle erreicht, läutet ihrHandy. Ich beobachte, wie das ein Spektrum an Gesichtsausdrücken auslöst. Das Telefon klingelt. Sie beschließt, es zu ignorieren. Sie beschließt, besorgt dreinzuschauen. Sie beschließt, es nicht zu ignorieren. Sie beschließt, es doch zu ignorieren. Sie beschließt, zu schauen, wer anruft. Sie beschließt, mit zusammengekniffenen Augen auf das Display zu sehen. Sie beschließt, einen genervten Blick zu unterdrücken. Sie beschließt, »nicht jetzt«. Sie beschließt, abzuschalten. Sie beschließt, mich entschuldigend anzusehen. Während all dem vergehen nur Sekunden. In denen sich auch noch eine dezente Geruchsbugwelle edlen Parfüms ausbreitet. Ich antworte ihrem Hallo, immer noch in die Betrachtung ihres Gesichts versunken.
Wir trinken was. Wir reden. Wir haben Sex. Im Anschluss kommt es nach entsprechenden albernen Aktionen sogar zu der Frage: »Bist du kitzlig?« Wir gehen eine Runde schwimmen. Wir gehen duschen. Ihr wogender Busen überrascht mich erneut. Ebenso wie ihre gesamte Figur. Ich muss es mir wirklich noch einmal sagen, ich hätte nicht gedacht, dass sie einen so heißen Körper hat. Dennoch unerwartete Plackerei, als wir noch mal Sex haben. Ich kann ihre Beine nicht so biegen und anwinkeln, wie ich das gerne mag. Es kommt immer so ein körpersprachlich angedeutetes »Stopp, nicht weiter«. Was das betrifft, ist sie überraschend ungelenkig. Das törnt mich ab. Mangels Erregung beschwöre ich eine frühere sexuelle Begegnung mit einer anderen Frau herauf, während Esther und ich am Machen sind, weil die Erinnerung in ihrer Idealisierung immer mehr Stimulationskraft besitzt als die Gegenwart. Es hilft. Ich finde meinen Rhythmus und besorge es ihr. Sie ist relativ eng – irgendwie enger als beim ersten Mal – und versucht, mehr Platz in sich zu finden. Ich ziehe meinen
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