Paranoia
eine Straße und ein Kindergarten nach diesem großartigen Menschen benannt werden sollen, der einem vierzehnjährigen Mädchen nächtens in einem U-Bahn-Abteil zur Seite stehen wollte. Gegen drei pubertierende Jungprolls. Ein leuchtendes Beispiel für uns alle. Gerade, dass das Original und der Säufer nicht losheulen vor Rührung über diesen Akt vermeintlicher Selbstlosigkeit. Und ich denke mir: Wow, tolles Idol. Ja, macht’s alle genauso so wie dieser Supertyp, überschätzt euch, mischt euch ein, auch wenn ihr chancenlos seid, aber eurer cholerischen Seite Ausdruck verleihen wollt, und werdet von ein paar Halbwüchsigen umgebracht. Ich verstehe das nicht.
Ausgerechnet in meinem letzten Stück Currywurst stoße ich auf ein dunkles Haar, was mich nicht so sehr stört, wie es eigentlich tun sollte. Trotzdem verzichte ich auf die Verköstigung dieses Happens, werfe meine Sammlung aus Pappteller und Plastikbesteck in ein Loch in einem Holzbrett und werfe dem Original mit seiner Schildmütze und Käptn-Seebär-Barteinen Blick zu. Unser Winken beim Abschied fällt ausgesprochen herzlich aus. Wohl, weil ich es unterlasse. Ich steige wieder in den wartenden Wagen. Gefriertruhe.
Noch ne Quittung.
Ich treffe Ben am Wiener Flughafen, er ist vollgepumpt mit Antibiotika. Sechs Stunden sind vergangen, seit wir uns getrennt haben. Er sagt, es gehe ihm schon besser. Er sieht beschissen aus. Fix und fertig. Totenblass und schwach. Aber seiner hyperaktiven Unruhe und den roten Augen nach möchte ich keinen Cent draufsetzen, dass er sich nicht noch zusätzlich eine Nase gezogen hat. Zur Beschleunigung des Heilungsprozesses. Wer ist schon gern krank! Was ich sehe, langt mir völlig: Fußwippen und Pupillenrollen. Pupillenrollen und Fußwippen. Bens permanente Hibbeligkeit entspricht klassischen Kokser-Indikatoren. Sogar mir fällt das auf. Und mir fällt so was normalerweise nicht auf.
»Der Arzt meint, eine ganz normale Grippe, nichts weiter«, sagt Ben und nickt ein wenig zu enthusiastisch.
Schön. Ich sage: »Gut. Dann ist ja gut.«
Gleich darauf niest Ben so heftig, dass mir aus Empathie fast meine eigenen Bronchien jucken. Ich wende mich angeekelt ab. Ein richtiger Schnupfen ist schon eine ziemlich harte Sache. Ich finde, solange es noch kein wirklich wirksames Mittel gegen Schnupfen gibt, braucht man gar nicht an der Entwicklung von Wirkstoffen gegen HIV, Parkinson und Krebs arbeiten. Erst mal die Grundhausaufgaben erledigen. Schlussendlich wird auch das Patent eines wirksamen Erkältungsheilmittels auf pures Glück hinauslaufen. Die größten Erfindungen der Menschheit waren zufällige Nebenprodukte, verblüffende Unfälle. So wie die Menschheit selbst. Ich werde es wohl nicht mehr erleben.
Bens Gesicht ist von Fieberschweiß bedeckt.
Wir buchen um, eine Maschine früher. Zeitersparnis: eineStunde. Umbuchungsgebühr: unverschämt hoch. Mehrkostenfaktor: Wir zahlen’s ja nicht.
In zehn Minuten verlassen wir die österreichische Hauptstadt. Jene, welche auch nur eine Ansammlung von Lebewesen ist. Jene, welche in der Selbstmordstatistik des Landes auf Platz 1 rangiert. Ich finde, sterben ist ausnahmslos das Interessanteste, was Menschen tun. Ich schweife ab.
Heimflug. Bereits deutscher Luftraum. Der Sturm hat inzwischen eingesetzt. Unberechenbare Böen, sintflutartiger Regen. Meine chronische Flugangst sendet immer grösser werdende Ausschläge an meine zum Zerreißen angespannten Nerven und lässt meine Bauchgegend zunehmend flattern. Ich bin schlecht darin, mich etwas auf Gedeih und Verderb auszuliefern – dem Piloten, dem Material, dem Schicksal. Für mich hängen Düsenjets, diese tonnenschweren Ungetüme, nichts weiter als am seidenen Faden. Sich auf einen Flug einzulassen bedeutet, von allen guten Geistern verlassen zu sein. Es ist, als ob man mit dem Erwerb des Tickets seine eigene Todesbereitschaft unterschreibt. Ein Graus, wenn man beruflich permanent so viel fliegen muss wie ich. Ich entwickle einfach keine Routine im Umgang damit, obwohl mein Pensum abenteuerlich ist. Meine Bonusmeilenkarte dürfte bald von Platin auf Diamant aufgestockt werden.
Ich hasse mich für meine Ängste und erzähle niemandem davon. Das bleibt in mir. Ich behalte es für mich, auch wenn meine gezwungene, spröde Munterkeit einem Eingeweihten die Wahrheit über meinen Zustand verraten könnte. Sobald sich meine Beklemmungen in elliptisch auftretenden Momenten kurzzeitig beruhigen, bezichtigte ich mich selbst der Hysterie. Und
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