Paranoia
Material bezahlt. Daraus folgt, dass wir unseren Kunden von seiner eigenen Individualität überzeugen müssen und ihm entsprechend auch einen einzigartigen Lösungsvorschlag auf den Leib schneidern müssen.
Ja, und das dauert, und das ist aufwendig, und das ist gar nicht so leicht, aber wir werden das schon schaffen, und – versprochen – wir bringen ihre Umsätze wieder ins Rollen. Vor allem unsere eigenen natürlich.
Gerade höre ich mir von einem Führungsetagen-Schwulibert mit roter Brille an, dass ein Matrix-Reorganisationsdesign einer Consultingfirma, die vor uns schon mal versucht hat, A. L. I. zu sanieren, versagt hat. Nach deren Neustrukturierung herrschte noch größeres Chaos als vorher. Ich glaube ihm sofort. Branchenkollegen, schwarze Schafe, falsches Konzept, im Endeffekt ein Minus für A. L. I. von 70 Millionen, für nichts und wieder nichts. Denen seid ihr schön auf den Leim gegangen. Das tut mir aufrichtig leid. Wir werden das ganz anders machen. Ich rede also in diesem Sinne flüssig vor mich hin.
Eine atemberaubende Blondine, ein wirklich auffallend hübsches Mädchen, lächelt beim Betreten des Raums ungezwungen ihr Tablett mit ein paar Tassen frischem Kaffee an. Optisch gebe ich ihr ein A mit Stern, aber als Tippse ist sie in der Gesamtkalkulation ein C, mit der Option, sich auf B hoch zu schlafen. Ihr leichtes Zittern unter dem Gewicht des Tabletts erzeugt minimale Wellen auf den Oberflächen der schwarzenFlüssigkeiten und Milchschaumhauben. Ich bemerke und beobachte das, rede weiter und lasse mich nicht ablenken. Ein Hanswurst (B-Männchen), der bislang nur dazu beitrug, das Zimmer voller zu machen, wirft beinahe knurrend ein, während die Blonde ihm seine Tasse auf den Tisch stellt, dass besagte Versager-Beratungscompany schon einiges an Erfahrung im Luftfahrtgeschäft mitbrachte – und dennoch scheiterte. Wieso also sollten sie sich gerade für uns entscheiden? Uuh, clever nachgefragt. Sehr kritischer Einwurf, Gratulation. Er tut, als läge ihm das Wohl seiner Scheißfirma am Herzen, aber eigentlich will er nur, dass ich leide. Er will mich bloß einschüchtern. Wir gegen dich. Doch es ist mir ein Vergnügen, die Herausforderung anzunehmen, ein verwichstes Vergnügen, ganz im Ernst. Ich lebe auf. Ich drehe auf. Ich antworte etwas Beflissenes und denke mir: Erfahrung? Erfahrung hatte diese andere Kackfirma? Erfahrung muss nichts Positives bedeuten. Man kann auch fünfzig Jahre konstant Mist bauen. Hast du doch gesehen, du bornierte Pappnase. Worüber reden wir also, Menschenskinder? Ihr habt euch damals also offensichtlich für die Falschen entschieden. Deine speichelblubbernde Frage war dann wohl eher ein Eigentor. Die Jungs hier sind wirklich nicht besonders helle.
Draußen fliegen kleine Schneeflocken vorbei. Blondie ist schon wieder weg. Und dann mache ich einen Vorschlag, wie wir meiner Meinung nach mit einer Umgestaltung der Firma beginnen könnten.
Ich verwende unter anderen die Worte:
»Implementierung eines Systemupdates«
»Benchmarking auf umsichtige Weise«
»Sauregurkenzeit ein Ende«
und schiebe gleich noch eine zufrieden bis begeisterte Kundenreferenz hinterher. Wie gesagt, wir bei Lutz & Wendelen, wir erfinden das Rad immer wieder neu. Eitel Sonnenschein.
Dann spricht einer der gestriegelten Lakaien rechts außen. Straffe Nase, straffes Kinn, straffe Wangen. (Knappes B)
Zu allem, was er mir erzählt, nicke ich bedächtig, um zu zeigen, dass ich beeindruckt bin, aber so beeindruckt nun auch wieder nicht. Ich könnte ihn jetzt argumentativ in die Ecke schießen und seine blutverschmierten Überreste von der Wand kratzen. Könnte ihm die echten Mängel und Versäumnisse und deren Ursachen aufzählen. Das wäre rein sachlich gesehen das Klügste für A. L. I.s Zukunft. Aber ich werde mich hüten. Bereits im ersten Auswahlseminar bei Lutz & Wendelen wurde uns eingetrichtert, nicht die nackten Fakten auf den Tisch zu legen, da sie den Kunden gegen uns aufbringen könnten. Tabuzonen immer umgehen. In erster Linie, dem Kunden nach dem Mund reden. Wer will schließlich schon die Wahrheit hören? Wir teilen einem Auftraggeber nur so viel Wahrheit mit, wie wir ihm zumuten können. Ein ziemlicher Drahtseilakt. Denn die Tugenden dieser Hasardeure internationaler Unternehmenskultur bestehen aus den vier Komplementäreigenschaften Egozentrik, Zielstrebigkeit, Beratungsresistenz und Unbelehrbarkeit. Sehr viel mehr ist da nicht. Erfahrungsgemäß gilt für das Profil nahezu
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