Paranoia
vorbei, deren Namen ich bis heute nicht kenne. Mein Schädel pulst vor Kälte. Das kann man sich nicht vorstellen. Der Wetterbericht auf Bayern 3 wird zelebriert, als wäre Schnee eine Weltneuheit. Dieses Jahr: Premiere. Es folgt Werbung für einen Schokoriegel. Ich hämmere mir den Markennamen ein, in das Hirn unter meiner froststarren Kopfhaut, wiederhole den Produktnamen noch mal und noch mal und merke mir vor, das bloß nie zu kaufen.
Mann, es zieht hier wie nichts Gutes.
13
Der Schurke auf der Leinwand hat den britischen Geheimagenten gerade in der Mangel und spricht eine unmissverständliche Ankündigung aus. Das war’s, du bist so gut wie tot, verabschiede dich schon mal, so in etwa. Das Raumschiff droht außer Kontrolle zu geraten, und Menschen purzeln nur so herum. Der achtjährige Junge neben mir lacht lauthals. Aus diesem Grund muss ich auch schmunzeln. Mehr über ihn als über den Film. In dem alten, überheizten Kino ist die Luft trocken und staubig, und mir tränen die Augen. Das ist also mehr eine mechanische als eine emotionale Sache.
Wir sind beinah allein. Hat was. Außer uns sehe ich nur noch vier in den Sitzreihen verstreute Köpfe, die Interesse an der James Bond-Retrospektive dieses alt-ehrwürdigen Kinos haben. Ein Paar und zwei Einzelpersonen. Hier gibt es noch einen roten samtenen Vorhang, der nach der Werbung wieder zu- und wenig später vor dem Hauptfilm erneut aufgezogen wird. Denkfehler. Das stimmt gar nicht, es sind zwei Vorhänge. Einer links, einer rechts. Der rechte blieb kurz im letzten Drittel der Strecke hängen, ruckelte dann aber hinterher. Das Surren der automatisierten Vorhangleiste klang wie ein Wespennest. Eine Tante mit Süßigkeiten-Bauchladen und Häubchen im Haar gibt es glücklicherweise nicht, wäre bei sechs Gästen auch lächerlich. Ich habe eine Jumbo-XXL-Tüte Popcorn mit viel Salz auf meinen Knien abgestellt, und Fynn greift immer wieder rein, ohne seinen Blick von der Handlung zu wenden. Den linken Ärmel seines dicken Pullis hat er zu diesem Zweck bis zum Oberarm hochgezogen.
Bis Weihnachten gibt es hier jede Woche einen anderen Klassiker der 007-Reihe zu sehen. Heute »Moonraker«. Roger Moore ist Fynns Lieblings-Bond. Das spricht für seinen Humor, würde ich sagen. Daniel Craig hält er für einen Neandertaler.Ich frage mich, wo er das aufgeschnappt hat. Sean Connery ist ihm zu streng, George Lazenby, keine Meinung, bei nur einem Film, und Timothy Dalton hatte »schlechte Drehbücher«, sagt er. Das hat er aus dem Kino-Magazin. Na ja, und Pierce Brosnan hält er für eine Schwuchtel. Das hat er von mir.
Die Geräusche eines Schlages, eines kurzen Kampfes, eines schrillen Schreies dringen zu uns.
Wir konnten uns auf keinen aktuellen Film einigen, soll heißen, dem kleinen Herrn war nichts ansprechend genug, und so sitzen wir jetzt in der Dreizehn-Uhr-Vorstellung und werden das ungefähr noch eine Viertelstunde tun. Gestärkt haben wir uns vorhin bei McDonalds. Er liebt den Fraß. Deshalb ist mir aber nicht schlecht. Das war’s mir schon vorher. Reflux, Magensäureüberschuss. Liegt an meinen Tabletten. Mein Magen-Darmtrakt ist ruiniert.
Immer wenn Fynn Popcorn nachgreift, sehe ich ihn im Dunkel des Kinos an und denke an Christian. Christian war mein einziger Verbündeter im Waisenhaus des Klosters Krennstal im Schwarzwald. Wir waren gleich alt und teilten dasselbe Schicksal. Wir waren nicht – wie die meisten anderen in der Anstalt – aus erzieherischen Gründen irgendwann im Alter von fünf, zehn oder fünfzehn Jahren abgegeben oder vom Jugendamt aus unserer Familie rausgeholt worden, sondern wurden beide am Tag unserer Geburt ausgesetzt. Das gibt es gar nicht so oft. Nur etwa zwei Prozent aller Waisenkinder sind echte Findelkinder. Ich stand seinerzeit sogar in der Zeitung, im Lokalblatt, das habe ich nachgeforscht. »Wer sind die Eltern dieses Babys?« Der Aufruf blieb ergebnislos.
Fynn greift in den Popcornbottich. Ich flüstere ihm zu, ob er was trinken will, die Flasche steht auf dem leeren Sitz neben mir, er heißt mich mit knapper Gebärde schweigen. Ist gerade spannend. Also halt ich mein Maul, vollkommen richtig.
Seit Fynn zwei ist, sorge ich dafür, dass ihm ein paar zusätzlicheAnnehmlichkeiten zuteil werden. Damit meine ich nicht nur unsere Treffen zwei- bis viermal im Monat, zu denen wir immer genau das unternehmen, wozu er Lust hat. Ich spende dem Heim regelmäßig saftige Beträge, um unser Standing dort zu verbessern, schleime mir
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