Paranoia
auszusprechen. Es direkt anzusprechen. Ich fahre mir übers Gesicht. Warte. Auf einmal, wie nach einer künstlich selbstauferlegten Verzögerung, platzt die Bombe. Sie hatrecht. Kein Zweifel. Ich musste es nur von jemand anderem hören. Ich bin ein Schizo. Plemplem. Das Wort Schizophrenie kracht mir durch den Kopf wie ein Dumdumgeschoss. Ich bin ein verdammter Irrer. Ich scheine die Kontrolle zu verlieren.
Die Erkenntnis breitet sich aus, und ich wünschte, ich könnte es verhindern. Es ist nicht so, dass ich erst jetzt darauf komme, dass ich es nicht geahnt hätte. Aber bis man sich durchringt, etwas konkret in Betracht zu ziehen, dauert es bei jedem eine Weile. Man hat das Gefühl, vollendete Tatsachen zu schaffen, wenn man erst mal anfängt, über eine niederschmetternde Erfahrung nachzudenken – und ihr einen Namen zu geben.
Mich überläuft ein Schauer.
Mit der Gewissheit lässt sich manchmal schlechter leben als mit dem Verdacht. Herrschaftszeiten, reiß dich zusammen!
Vielleicht ist »Schizophrenie« auch der falsche Terminus. Es gibt sicherlich Abstufungen, verschiedene Formen. Oder ein ganz anderes Wort für diese Art von Wahrnehmungsausfällen.
Ganz weit entfernt höre ich: »Air Linus haben einen Rückzieher gemacht und planen, den Auftrag anderweitig zu vergeben. Deshalb sind wir …«
Ein schizophrener Kampfhund. Ich. Es muss eine plausible Erklärung geben. Die gibt es doch immer. Eine einfache Erklärung.
Vor meinen Augen taucht ein Flimmern auf. Es kann nicht mehr lange dauern, bis es sich herumsprechen wird, was mit mir los ist. Sosehr Robert Lutz auch um diskrete Abwicklung bemüht sein muss und nur einen kleinen Kreis einweihen wird. »Irgendwas sickert immer durch«, flüstere ich mir tonlos zu und rolle schnell mit den Augen, schaue in jede beliebige Richtung, breche sofort ab, als ich mir dessen bewusst werde, halte sie sofort wieder still, fixiere Esther eindringlich und schüttle betroffen den Kopf, damit sie nur bloß nicht meint,ich hätte wegen ihr mit den Augen gerollt. Ich höre ihr nicht zu, sehe nur ihre sich bewegenden Lippen.
Wie lange habe ich noch, bevor die Geheimhaltung leckt? Ich muss retten, was zu retten ist. Ich fühle mich schuldig. Einer undefinierbaren Instanz gegenüber. Ich weiß wirklich nicht welcher. Immer nur Schuld.
»Wenn ich deine Schuld nicht sühnen würde, wäre das etwa nicht auch eine Sünde?«, hat Pater Cornelius mich immer gefragt, nachdem er mich für eine Verfehlung mit Prügeln bestraft hatte. Und ich sah die Äderchen auf seiner Nase, und sein breiiges, schiefes Grinsen erinnerte mich an eine wächserne Satansmaske. Manchmal höre ich ihn noch fragen: »Gefällt dir das, was ich da tue?« Das kann man nicht wiedergutmachen.
Meine Pupillen springen auf und ab. Ich sauge tief Luft ein und fülle meine Lungen. Hilflosigkeit und Irritation durchströmen mich mit solcher Heftigkeit, dass ich mich zur Ablenkung wieder auf Esther zu konzentrieren versuche. Sie spricht von Kollateralschaden, von Lutz’ Sorge um das Ansehen der Firma, sie zitiert ihn, fragt, ob mir der Ernst der Angelegenheit klar ist, fragt schon wieder wieder wieder, warum ich denn nichts sage, und den Rest verpasse ich oder kann ihn nicht einordnen.
Ich lasse ihr Zeit. Der Eisregen prasselt vernehmbar gegen die Scheiben. Ich lege meine Hand auf ihre. Das ist unserem Verhältnis überhaupt nicht angemessen, aber ich weiß, dass sie mich gern hat. Und vielleicht täte es mir gerade ganz gut, es so wie alle anderen zu machen. Mich auf eine Frau einlassen, die man schätzt und liebt und so.
Eine Frau, die zu lieben man sich bis an sein Lebensende vortäuschen kann. Und die ungefähr genau so viele Mondphasen erlebt hat wie man selbst. Oder gar ein paar weniger. Ich lächle Esther ins Gesicht.
Ich glaube, sie gehört zu den Menschen, die lieber geben als nehmen. Und aus unseren zahllosen Gesprächen weiß ich, dass wir uns in so vielen Kleinigkeiten und Lebensfragen wundersam einig sind. Sie zieht ihre Hand nicht zurück. Wenn nur der plötzlich aufgetretene Anteil von Mitleid aus ihrem Blick verschwinden würde.
Die Selbstmordrate von Verheirateten ist deutlich niedriger als die von Alleinstehenden, Verwitweten oder Geschiedenen.
Ehe, Partnerschaft, Liebe. Das eben. Das ist die gesündere Lebenseinstellung. Ist das wirklich die höchste Stufe des Glücks? Ich schweife ab.
Starre ich einfach zu angestrengt immer auf das nächste Ziel und übersehe dabei ganz, was am Wegesrand auf
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