Paranoia
mich wartet?
Regelmäßig frühstücken, regelmäßig Sport treiben, Obst, Oper, Kosenamen. Ich besitze nicht mal einen Regenschirm. Und schon wieder abgeschweift.
Aus irgendeinem Grund spüre ich das Bedürfnis, Esther zu fragen, ob sie auch diesen ewigen Eindruck hat, sich selbst in der Welt zu beobachten und fehl am Platz zu sein. Ob sie sich auch fragt, ob die Anderen sich wohl genauso fühlen – und warum die Anderen eine klarere Vorstellung von dem zu haben scheinen, was sie tun, und sich nicht so viele Gedanken machen.
Aber ich frage nicht. Es klänge lahm.
»Jetzt lass uns erst mal was essen«, sage ich gespielt munter mit meiner Conrad-Sorglos-Stimme und pieke fröstelnd mit der Gabel in den mittlerweile servierten Salat. Gruppiere Gurken und Tomaten um. Ihre blau-grünen Augen stehen weit offen über ihrem im selben Zustand befindlichen Mund. (Wenn ich kaue, spüre ich meinen Pickel.) Ausgelöst durch meinen Themenwechsel ist Esther wie versteinert. Aber ich kann nicht anders. Ich muss das Gespräch von mir weglenken. Das muss ich selbst klären. Jetzt heißt es, auf Zeit spielen, das Essen durchziehen. Nichts anmerken lassen.
Ich lege die Gabel beiseite, niese unterdrückt und mit vorgehaltener Hand, ziehe die Holzstäbchen aus der Papierhülle, die neben dem normalen Besteck liegen, breche sie auseinander und klemme sie zwischen die Finger.
»Wie geht’s
dir
denn so?«, frage ich und fühle mich kein bisschen ruhiger. Ich runzele die Stirn. Die Stimme, die immer zu mir spricht, Christians Stimme, brabbelt schon den ganzen Tag vor sich hin. Völlig konfus. So kenne ich das nicht. Ich verstehe kein Wort, es ist nur ein Kauderwelsch, das die ganze Zeit wie ein Störgeräusch durch meine Sinne rauscht.
Esthers Antwort steht noch aus, wenn ich das richtig sehe.
Doppelschläge links der Stirn. Hände weg von dem Pickel.
Ich sage »Hmm?«, um sie noch mal an meine Frage zu erinnern. Sie scheint nicht recht zu wissen, wie sie darauf reagieren soll. In Betracht ziehend, dass mein Themenwechsel zu abrupt war, lasse ich verlautbaren: »Morgen bin ich übrigens bei Joel und hole mir seine juristische Meinung ein. Mal sehen, was er zu sagen hat.«
Esther nickt und wartet darauf, dass ich das ausführe. Tue ich aber nicht. Ich kleckere etwas von dem Dressing auf die Tischdecke. Sie sagt: »Du hast da etwas an der Backe«, und zeigt auf meine linke Wange. »Nein, weiter links. Ja. Jetzt ist’s weg.«
Ich tupfe mir den Mund mit meiner Serviette ab, die ich davor aber noch kurz vor die Nase halte. Ich rieche daran. Riecht nach nichts. Mehrere braune Flecken auf weißem Stoff umzingeln meinen Teller. Esthers Tischhälfte ist makellos sauber. Ich schaue zu ihr. Sie sieht mir in die Augen, als könnte sie mir in die Seele blicken. Unangenehm. Ich fühle mich echt beobachtet. Da. Das kommt davon. Ein Salatblatt, eine kleine Tomate und zwei Sojasprossen fallen von meinen Stäbchen und landen mit erschreckender Zielsicherheit auf meinem Hemd. Ich schaue an mir herunter, greife nach der Serviette.
»Conrad, bitte geh zu einem Arzt, du musst was unternehmen, ich mache mir solche Sorgen … Du machst mir Angst«, sagt Esther, während ich mir schon die nächste Ladung Salat einverleibe.
Ich mampfe und balle meine Faust vor dem Mund, schlucke, lache und räuspere mich zugleich, entferne meine Hand vom Mund und sage, immer noch kauend: »Ach was, das ist nur eine kleine Erkältung, nichts Ernstes. Das wird schon wieder.«
19
Ich stolpere aus dem Restaurant, verabschiede mich von Esther, laufe zum Auto, die Straße entlang. Es regnet nach wie vor. Ein Bus dröhnt vorbei. Ein Audi spritzt mich beinahe mit Wasser voll. Auch schon egal. Beim Wagen angekommen, drücke ich versehentlich die falsche Wippe auf dem Infrarotschlüssel, und die Klappe des Kofferraums geht auf. Meine darin liegende Aktentasche wird vom Regen vollgesprenkelt. Tropfen perlen ab, rinnen auf die Matte. Kofferraumklappe wieder zuschlagen. Ich schließe die Fahrertür, sitze da und lausche der Stille des Wageninneren. Endlich allein.
Jekyll & Hyde also!
Sieht ganz danach aus.
Keiner von uns sagt ein Wort. Ich nicht und ich nicht. Und das ist genauso, wie es klingt. Paranoid.
Kalter Schweiß steht auf meiner Stirn, meine Ohrläppchen fangen an zu glühen. Ich fühle mich entsetzlich. Im Durcheinander meiner Gedanken dringt so vieles auf mich ein, und diese entsetzliche Leere durchmisst meinen Kopf, zieht ihn zusammen, dehnt ihn wieder aus, zieht
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