Paranoia
und dehnt, zieht und dehnt. Langsam kapiere ich, wie der Hase läuft. Langsam.Eben auf so eigenartige Weise langsam, immer nur Schritt für Schritt, kann ich meine Lage begreifen. Es ist wie ein böser Traum.
Mein dauerndes Hadern mit mir selbst – natürlich bin ich ein vielschichtiger Charakter, aber das ist der Großteil. Es gelang mir bislang hervorragend, alles im Inneren zu halten. Wenn ich das Bedürfnis hatte, etwas Dampf abzulassen, mir etwas Erleichterung zu verschaffen, dann nur in Gedanken, nur in meinen Fantasien. Doch etwas hat sich geändert. Irgendwo auf der zurückgelegten Strecke hörte ich auf zu funktionieren. Daran ist nicht zu rütteln.
Ich kann mich nicht mehr auf mich verlassen.
Noch immer in Parkposition stehend, angespannt bis in jede Faser, warte ich auf die Rückkehr irgendeiner Form von Ruhe. Ich weiß, das wird nichts bringen.
Aus einem Karton im Fußraum des Rücksitzes fische ich eine Dose Red Bull. Ich öffne sie mit weit von mir gestreckten Armen. Das gummibärig schmeckende Gesöff schwemmt meine heute dritte Insidon die Kehle hinunter.
Obwohl ich die Strecke im Schlaf fahren könnte, tippe ich meine eigene Adresse in den Navi. »Destination«, »Home«, »OK«. Beschäftigungsmaßnahme zum Zeitgewinn. Ich strecke mir im Rückspiegel die Zunge raus. Dicker, weißlicher Belag, punktuell rosa durchsetzt von der noppenartigen Zungenhaut. Ich schließe meinen Mund wieder und sehe mich durchdringend an. Lasse meine Welt zusammenschrumpfen auf das schmale Rechteck des Rückspiegels, in das nur meine Augenpartie und die Nasenwurzel passen. Fehlt noch das Fadenkreuz in meinen Pupillen. Im rechten Hintergrund dieses Bildausschnitts taucht das Abblendlicht eines Autos auf, reflektiert in der Heckscheibe und verschwindet wieder. Nach einer kompletten Denkpause, die schon etwas lang zu werden drohte, starte ich den Wagen. Der inzwischen regelrecht herabstürzendeRegen nimmt mir fast die Sicht. Bin so eng eingeparkt worden, dass die Abstandssensoren beim Vor- und Zurückzuckeln ein wahres Schreikonzert aus kurzen und langen, hohen und tiefen Signaltönen abliefern. Nach etwa einem halben Kilometer muss ich an einer Ampel halten, die in all den Jahren, die ich diese Strecke schon fahre, nicht ein einziges Mal grün war. Und mache für einen Augenblick beinahe die Ampel für all mein Elend verantwortlich. Vielleicht, weil man in schwachen Momenten falsche Schuldzuweisungen für seine Bedrückung macht.
Ich weiß genau, wer mich zu dem gemacht hat, was ich bin, wem ich die Schuld an meiner Misere geben kann. Ich neige nicht zu revisionistischer Geschichtsschreibung.
Traumatische Ereignisse im Rückblick einordnen und als eine Art Schule begreifen zu wollen, sie als Hilfe für den eigenen Reifungsprozess umzudeuten und schönzureden, als wären sie zum Erreichen der Jetztzeit unerlässlich gewesen – das ist nichts für mich.
»Aber es hat mir nicht geschadet.«
»Im Rückblick möchte ich diese Erfahrung nicht missen.«
»Das hat mich zu der Person gemacht, die ich jetzt bin.«
Wenn ich das schon höre. Diese kompromisslose Unlogik ist von solch naiver Heftigkeit, dass sie ans Unbegreifliche grenzt. Die fahle Kapitulation um eines trügerischen Friedens willen. Was schlimm war, wird immer schlimm bleiben! Es hat nicht den Horizont erweitert. Es hat ihn verringert.
Aber Menschen pflegen einen seltsamen Umgang mit Ereignissen, von denen sie entschieden haben, dass sie ihrem Lebensweg einen Rahmen geben sollen. Ihr seltsames, nicht zu Ende gedachtes Glück-Pech-Universum. Was ist was?
Jemand überlebt einen schweren Unfall weitgehend unverletzt. Gerade noch so davongekommen. Ist das Glück? Viele würden sagen: ja. Dumme Leute behaupten so was. Aber hältman es auch für Glück, dass diese Person überhaupt in einen Unfall verwickelt wurde?
Hat jemand Glück, wenn er bei einem Unfall nur
ein
Bein verliert und nicht beide? Wenn er nur querschnittgelähmt ist und nicht tot? Wo fange ich an, die beiden Glück-Pech-Parameter zeitlich anzusetzen? Im Moment des Aufpralls? Zum Zeitpunkt des Besteigens des Autos? Zum Zeitpunkt der Planung der Autofahrt? Oder zum Zeitpunkt der Geburt? Zeugung? Urknall?
Otto Normalverbraucher versucht sich vorzulügen, hinter seinem Pech stecke ein übergeordneter und langfristig als Gewinn deklarierbarer Grund. Scheiß drauf. Sich selbst so was als Bereicherung zu verkaufen ist etwas, zu dem ich nicht imstande bin. Ich weiß genau, was schlecht lief, und es
Weitere Kostenlose Bücher