Paranoia
mir mit dem Handrücken über den Mund. Betont seelenruhig steckt P sich ein Zigarillo an. Blauer Rauch quillt zwischen seinen Lippen hervor. Die Szene in diesem kargen, kleinen Zimmer wirkt so unnatürlich, so aufgeladen mit unterschwelliger Spannung, dass mir erst jetzt bewusst wird, dass ich mal wieder keine Ahnung habe, was man eigentlich von mir will. Ich denke: Nur nicht persönlich nehmen. Jeder könnte hier sitzen. Durchhalten.
Mein Hustenanfall hat wohl eine willkommene Zäsur markiert, und P erklärt das Interview für vorerst beendet, indem er mit der Diskette wedelt und sie in einen Player unter einem kleinen Fernseher schiebt, den ich zwar die ganze Zeit gesehen, aber nicht wahrgenommen habe. Ohne weiteren Kommentar drückt er auf Play, setzt sich auf die Kante des Schreibtisches und betrachtet mich. Unsere Augen treffen sich, er erweist mir einen spöttischen kleinen Salut. Bis jetzt ist mir nur ein fanatisches Glitzern in seinen Augen aufgefallen, aber jetzt erkenne ich darin auch einen Hauch von Amüsement. Oder Sadismus. Wenn der alte Mythos von den angewachsenen Ohrläppchen stimmt, muss ich mich vor ihm doppelt in Acht nehmen.
Der Diskettenfilm rauscht zunächst, und man sieht nur den üblichen grauen Schneesturm. Auf dem Bildschirm erscheint ein Kreis um eine vier. Eine drei. Ein Countdown. Zwei eins null. Dann kristallisiert sich eine grünstichige Aufnahme von erstaunlicher Qualität heraus.
Die Säure ist in meinem Magen explodiert. Sie möchte raus. Ich halte die Scheiße ein. Kriege leichte Krämpfe, die so schnell nicht vergehen werden.
Ich lehne mich vor. Herr P zeigt mit der Fernbedienung auf den Fernseher. »Sehen Sie sich das mal an, Herr Dr. Peng.«
Und ich sehe es mir an.
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Was ich da erkennen kann, raubt mir den Atem. Der Film beginnt wenige Sekunden vor der Explosion, die das Loch in die Kabine gesprengt hat. Man sieht den Passagierraum der Tupolew, rechts unten am Bildschirmrand steht das Datum von heute und die Uhrzeit: 00:03:25. Stunde, Minute, Sekunde.
Die Perspektive, aus der die Kamera des Videoüberwachungssystems die ganze Flugzeugkabine von oben herab erfasst, lässt erkennen, wie einer massiven Erschütterung eine Luftdruckwelle folgt, die die Passagiere wie Pappfiguren gleichzeitig in ihre Sitze drückt.
Die Bildqualität entspricht der einer grünstichigen Nachtaufnahme mit einer Infrarotkamera. Es gibt keinen Ton und die identisch verzerrten Grimassen und nach hinten wehenden Haare sehen grotesk aus. Wie von einer unvermittelt angeschalteten Windmaschine verursacht. Und Action! So in etwa.
Ich strecke meinen Kopf weiter nach vorne, näher an den Bildschirm, um besser erkennen zu können, was vor sich geht.Nach einigem Suchen finde ich mich, wie ich neben Ben auf meinem Platz sitze, mich festzukrallen versuche und umherschaue. Angsterfüllte Augen. Ich sehe, wie Gegenstände durch die Gegend wirbeln, Menschen verletzt werden. Ein Mitglied der Crew sucht sich einen Platz, um nicht den Schwankungen zum Opfer zu fallen. Das Ganze gleicht einem Inferno. Die Hölle bricht los.
Mein Herz schrumpft. Ein Getränkewägelchen fliegt durch die Luft wie ein federleichter Karton. Und jetzt erkenne ich, wie die Dicke, die auf der gegenüberliegenden Gangseite meiner Reihe sitzt, nach vorn überkippt und über die Fläche vor ihr geschleift wird, auf der vorher eine Sitzgruppe stand, die jetzt nur noch aus einem einsamen, verbeulten Sessel besteht. Der Perspektive der Kamera geschuldet, verschwindet sie für einen kurzen Augenblick hinter einer Lehne, taucht dann wieder auf. Sie dreht sich auf den Rücken, wohl um ihren schwangeren Bauch freizulegen, wird von der Anziehungskraft des Unterdrucks aber schnell wieder auf den Bauch gedreht und unaufhaltsam, wie von unsichtbaren Fäden, Richtung der Öffnung in der Bordwand gezogen, bis ihr Hintern sich darin verkeilt. Sie strampelt und sucht Halt, das hilft aber nichts. Ich kann es nicht anders sagen, es ist furchtbar und zugleich wirklich zum Brüllen. Ein Hingucker.
Ein fetter Arsch als Pfropfen, der ein Leck stopft. Mir fehlen die Worte. Und wie sie schreit! Zeter und Mordio. Tragödie! Komödie! Ich habe das Verlangen, vor Anteilnahme in Tränen auszubrechen, allerdings ein genauso großes Verlangen, hysterisch zu lachen. Ich pisse mir fast in die Hosen, so sehr versuche ich, beides zu unterdrücken. Das alles erscheint mir derart fremd und völlig losgelöst von mir, dass ich buchstäblich erschrecke, als ich am linken
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