Paranoia
Bildrand erkenne, wie ich mich aufmache, der Dicken zu Hilfe zu kommen. Durch den Winkel der hoch angebrachten Kamera bin ich etwas verkürzt.
Gebannt beobachte ich, wie ich mich langsam auf sie zu bewege, mich Schritt für Schritt an Lehnen und den Deckenleisten abstütze, um nicht das Gleichgewicht in der rumpelnden, wackelnden Maschine zu verlieren. Meine Bewegungsabläufe wirken beinahe mechanisch, mein Körper folgt lediglich den Bewegungen, als wäre ich ein Aufziehspielzeug. Der Schwerkraft trotzend.
Und ich werde Zeuge, wie sie mir ihren Arm ins Gesicht rammt, als ich nach ihr greife – das also ist der Grund meiner Beule –, wie ich mich wieder erhole und erneut versuche, sie zu bergen, wie ich mich mit einem Fuß gegen die Wand stemme und sie schließlich mit aller Kraft aus ihrer Falle befreie, kurz bevor sie vollends durch die Öffnung gesogen oder vor Unterkühlung ohnmächtig wird.
Und – fließender Übergang – ich werde Zeuge, wie ich sie in einen angrenzenden Sitz zerre, ihr hastig einen Gurt um den Oberschenkel binde – und wie mir nach ihrer Fixierung drei Männer das Leben retten, als sie kurz darauf verhindern, dass es mich selbst aus dem Leck des Fliegers zieht, indem sie nach mir greifen und mich von hinten zurück in die Kabine reißen. Aber Moment! Da stimmt was nicht. Es mag nicht für jeden erkennbar sein, für mich ist es das! Kurz bevor die Männer mich erreichen, sieht es so aus, als würde ich schlafwandelnd von dem Loch in der Bordwand angezogen. Wie magisch. Als würde ich aufrecht gehend in seine Richtung krabbeln. Als würde ich mich ohne ein eigentliches Hindernis vordrängeln. Als wolle ich unsinnigerweise den entstandenen Schaden inspizieren. Plausibler ist allerdings eine andere Erklärung.
Vergebens beginne ich in Ecken und Winkeln meiner Erinnerung zu stöbern. Suche nach Brücken, die mir auf die Sprünge helfen könnten. Doch ohne Erfolg. Was weiß ich eigentlich? Es ist mir auch so völlig klar, was ich vorhatte. Meine ungelenken Bewegungen, meine Blicke, meine Stoßrichtungverraten es mir. Ich mache keine Anstalten, mich irgendwo festzuhalten oder abzusichern. Nicht mal, als ich heftig ins Wanken gerate. Allem Anschein nach vereiteln die drei, die mir zu Hilfe kommen, nichts weniger als meinen Versuch, mich aus der Maschine zu stürzen. Konfrontiert mit dieser verrückten, vollkommen unerwarteten Entwicklung, bin ich verwirrter als zuvor. Verkehrte Welt. Der Film geht weiter. Am äußeren Bildrand zuckt jemand zusammen, von einem unsichtbaren Projektil am Hals getroffen. Herr P stellt auf Vorlauf. Ich lasse es ohne Protest geschehen. In Zeitraffer beobachten wir die endlosen Minuten bis zur Notlandung, die eigentlich eine reguläre Landung war. Die Rettungskräfte, die das Flugzeug stürmen, als wollten sie uns zunächst alle erschießen, und schließlich – Herr P schaltet wieder auf reguläre Abspielgeschwindigkeit – die Evakuierung, die übrigens auf Film deutlich schneller vonstatten geht, als ich es gestern empfunden hatte.
P schaltet den Fernseher ab, sagt kein Wort. Ich stütze mein Kinn auf meinem Arm ab, der auf meinem Knie steht. Eine scheinbar altruistische Rettungsaktion und im Anschluss ein Selbstmordversuch also. Erinnerung Fehlanzeige. Wie gelähmt sitze ich in diesem Nebel aus Hilflosigkeit und lasse die Zeit verstreichen, beiße mir in die Wunde an meiner inneren Unterlippe, bis Blut kommt. Bei Vollmond bluten Wunden stärker, wir haben kurz nach Neumond. P drückt seinen halb gerauchten Zigarillo in einem schmutzigen gläsernen Aschenbecher aus, greift sich einen Bleistift vom Tisch und dreht zwischen Daumen und Zeigefinger das Radiergummiende hin und her. Wie jemand, der auf mich mit dem müden Zynismus desjenigen herabsieht, der es besser weiß, sagt er langsam: »Tja, Herr Dr. Peng! Sie sind ein Held!«
Jetzt also Sarkasmus. Ich kneife meine Augen zusammen und lege meinen Kopf zur Seite. Dann erst fällt mir ein, was ermeint. Es sieht wohl ganz danach aus. Zu meiner eigenen Verwunderung bin ich verlegen. Und dieser fehlmotivierte Gefühlsausschlag versetzt mich gleich darauf nochmals in Verlegenheit. Vielleicht deshalb fragt mein Blick zur Überbrückung: Wie bitte?
»Sie sind jetzt ein Held, Herr Dr. Peng!«, wiederholt P nachhaltig. »Das sind Sie doch, nicht wahr?«
Jetzt also Provokation. Dafür fehlt mir im Moment der Sinn. Vielleicht deshalb sagt mein Blick: Bedaure, keine neuen Erkenntnisse, ich kann Ihnen immer noch nicht
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