Parasiten
nennenswertes Privatleben, und ihre ehemals fulminante Karriere
als Wunderkind war seit Jahren auf dem absteigenden Ast. Wenn Sofia nicht in
der Mittelmäßigkeit einer Dozentin verkommen wollte, musste etwas passieren.
Sie musste sich auf sich selbst konzentrieren. Fast war sie wütend auf Danylo,
weil der sich diese Gedanken nie machte. Danylo dachte nicht nach über die
Zukunft, über das tägliche Brot und die Miete und die Krankenversicherung und
die Altersvorsorge. Er beschäftigte sich ausschließlich mit Neuinterpretationen,
Fingersätzen und Auftritten in möglichst großen Konzerthäusern. Danylo war so
besessen von der Musik, dass sich Sofia neben ihm oft wie eine biedere Hausfrau
fühlte, deren Erfüllung eher in einer vollkommenen Erbsensuppe lag denn in der
virtuosen Darbietung einer großen Komposition. Früher hatte man ihr das gleiche
Talent wie Danylo bescheinigt. Doch im Gegensatz zu Danylo konnte und wollte
sie nicht nur für die und auf der Bühne existieren. Sie träumte heimlich vom
kleinen Glück. Während Danylo sich nach den Sternen sehnte, erschien ihr deren
Licht zu kalt. Sie wünschte sich Liebe. Einen Mann. Kinder. Und kam sich dumm
und egoistisch dabei vor. Schließlich war sie gesegnet mit einem Ausnahmetalent.
Und man hatte ihr schon sehr früh klargemacht, dass sie dieser Gabe nicht nur
Dank erweisen, sondern ihr ganzes Leben unterordnen musste.
Müde betrat sie ihre Wohnung. Sie sehnte sich nach dem Bett. Nur
noch heiß duschen, die Zähne putzen und Nachtcreme auftragen. Sofia zog ihre
Jacke aus, warf sie auf den Stuhl im Flur und wollte weitergehen, Richtung Bad.
Da spürte sie es. Sie war nicht allein. Jemand war hier. In ihrer Wohnung.
Atemlos hielt sie inne. Sie stand im Flur. Vor ihr lagen die Küche und das
Wohnzimmer. Rechts das Bad. Links das Schlafzimmer. Hinter ihr der Ausgang.
Alles in ihr wollte zurück, zum Ausgang. Doch sie hörte nicht auf ihre
Instinkte, schalt sich eine dumme, überspannte Kuh. Ging weiter. Als sie die
Hand auf den Lichtschalter im Wohnzimmer legte, bekam sie einen heftigen Schlag
ins Gesicht. Sofia flog gegen die Wand und sackte zu Boden. Sie war nicht
bewusstlos, sie war überrascht. Ihre Knochen taten weh.
»Okay, du Schlampe. Sag mir, wo Danylo ist!« Der Mann klang wie ein
Russe, der schon länger in Deutschland lebte. Sein Akzent war recht
unauffällig, doch Sofia besaß ein feines Gehör.
»Ich weiß es nicht! Er ist verschwunden!« Sofia konnte den Mann
nicht erkennen. Er stand ihr im Dunkeln gegenüber, nur die Straßenbeleuchtung
erhellte das Zweizimmer-Apartment ein wenig, sodass sie die Umrisse des
Eindringlings sehen konnte. Er war mittelgroß und breitschultrig.
»Dann sag mir, wo die Kassette ist!«
»Welche Kassette?«, stöhnte sie. Sofia versuchte, ihre Einzelgliedmaßen
in die richtige, angestammte Ordnung zu bringen.
»Kassette, Band, DVD, mpeg-Datei, mir scheißegal, aber rück die
Aufnahme raus!«
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden!«
Er trat ihr in die Rippen. Es tat höllisch weh. Sie donnerte mit dem
Rücken gegen das Regal. Ein kleiner, gläserner Schwan, den ihr ihre Mutter
Ileana geschenkt hatte, fiel aus dem Regal und zersprang. Er fragte sie noch
einmal. Sie stöhnte laut auf und schüttelte den Kopf. Danylo hatte ihr
offensichtlich nicht alles erzählt. Aber wenn der Mann etwas bei ihr suchte,
konnte das nur heißen, dass er nicht wusste, wo Danylo war. Für einen kurzen
Moment war Sofia erleichtert. Oder log der Mann? Sofia konnte nicht mehr klar
denken. Was war hier los? Worum ging es überhaupt? Er trat sie wieder. Und
wieder. Es half ihm nicht. Sie hatte immer noch keine Ahnung. Sie spürte, wie
ihr Gesicht anschwoll, Blut schoss aus ihrer Nase, die Oberlippe war
aufgeplatzt, ihr ganzer Oberkörper schmerzte, sie zog die Beine an, um ihren
Leib zu schützen, doch obwohl er ihr zwischen den Tritten auch immer wieder mit
der Faust ins Gesicht schlug, hielt sie nicht die Hände davor, sondern
versteckte sie hinter dem Rücken, so gut es ging. Nicht die Hände. Den Händen
durfte nichts passieren, niemals, das hatte sie von Kind an gelernt. Ohne ihre
Hände war sie ein Nichts.
Sofia fing an zu weinen und zu wimmern und zu betteln, sie gab dem
Mann recht, was immer er auch sagte, sie gab ihm in allem recht, nur damit er
aufhörte, endlich aufhörte.
Schließlich hörte er auf, sie zu schlagen, und machte das Licht an.
Er trug Jeans, grobe Schuhe, eine Skimaske und einen grünen Parka. Sofia sah
trotz
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