Paris im 20. Jahrhundert
gegen den Fortschritt erheben«, sagte Michel.
»Schon möglich«, antwortete Onkel Huguenin, »und das könnte durchaus komisch werden. Aber wir wollen uns keinen philosophischen Abschweifungen hingeben, sondern lieber weiter die Reihen abschreiten. Hier hast du einen prächtigen Armeeführer, der vierzig Jahre seines Lebens dazu aufgewendet hat, von seiner Bescheidenheit zu sprechen, Chateaubriand, den seine
Erinnerungen von jenseits des Grabes
nicht vor dem Vergessen bewahren konnten.«
»Neben ihm sehe ich Bernardin de Saint-Pierre«, sagte Michel, »und sein einfühlsamer Roman
Paul und Virginie
würde niemanden mehr rühren.«
»Leider Gottes!« fuhr Onkel Huguenin fort. »Paul wäre heutzutage Bankier, würde die Weißen ausbeuten, und Virginie würde den Sohn eines Herstellers von Lokomotiventriebfedern heiraten. Schau! Hier stehen die berühmten Memoiren von Monsieur de Talleyrand, die auf seine Anordnung erst dreißig Jahre nach seinem Tod veröffentlicht wurden. Ich bin überzeugt, daß dieser Herr dort, wo er jetzt ist, immer noch Diplomatie betreibt, aber der Teufel wird ihm nicht auf den Leim gehen. Da erspähe ich einen Offizier, der Feder und Schwert in gleicher Weise zu führen verstand, ein großer Hellenist, der Französisch schrieb wie ein Zeitgenosse des Tacitus, Paul-Louis Courier; wenn unsere Sprache am Ende ist, wird man sie mit den Werken dieses stolzen Schriftstellers von Grund auf erneuern. Da ist Nodier, der Liebenswürdige genannt, und Béranger, ein großer Staatsmann, der in seinen freien Minuten Lieder schrieb. Endlich gelangen wir zu jener glänzenden Generation, die der Restauration entlaufen ist, wie man dem Priesterseminar entläuft, und die in den Straßen ungeheures Aufsehen erregt hat.«
»Lamartine«, sagte der junge Mann, »ein großer Dichter!«
»Einer der Anführer der Bilder-Literatur, vergleichbar der Memnon-Statue, die in den Strahlen der Sonne so wohlklingend ertönte! Armer Lamartine, nachdem er seinen Reichtum an die erhabensten Dinge verschwendet und die Harfe des Armen in den Straßen einer undankbaren Stadt gezupft hatte, verschleuderte er sein Talent an seine Gläubiger, erlöste Saint-Point von der quälenden Hypothekenplage und starb an dem Schmerz, diese Heimaterde, in der die Seinen ruhten, von einer Eisenbahngesellschaft enteignet zu sehen!«
»Armer Dichter«, antwortete der junge Mann.
»Neben seiner Leier«, fuhr Onkel Huguenin fort, »siehst du die Gitarre von Alfred de Musset; niemand spielt sie mehr, und man muß schon ein alter Liebhaber wie ich sein, um an den Schwingungen dieser lose gewordenen Saiten Gefallen zu finden. Wir sind mitten im Musikbataillon unserer Armee.«
»Ah! Victor Hugo!« rief Michel. »Ich hoffe, lieber Onkel, daß Ihr ihn zu unseren großen Feldherren zählt!«
»Ihm gebührt die erste Stelle, mein Sohn, wie er auf der Brücke von Arcole die Fahne der Romantik schwingt, er, der Sieger der Schlachten um Hernani, um Ruy Blas, um die Burggrafen, um Marion! Wie Bonaparte war er bereits mit fünfundzwanzig Jahren Oberbefehlshaber und schlug die österreichischen Klassiker bei jeder Begegnung. Nie, mein Kind, ist das menschliche Denken eine kraftvollere Verbindung eingegangen als im Gehirn dieses Mannes, einem Schmelztiegel, der fähig war, auch die höchsten Temperaturen auszuhalten. Wenn es um Leidenschaftlichkeit und Reichtum der Einbildungskraft geht, kenne ich nichts, was über ihm stünde, weder in der Antike noch in der Neuzeit; Victor Hugo ist die höchste Verkörperung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und das Haupt einer Schule, die unerreicht bleiben wird. Seine Gesammelten Werke haben es auf fünfundsiebzig Ausgaben gebracht, hier steht die letzte; er ist vergessen wie alle anderen, mein Sohn, denn er hat nicht genügend Leute umgebracht, damit man sich seiner noch erinnert!«
»Ah! Lieber Onkel; Ihr besitzt die zwanzig Bände von Balzac«, sagte Michel und schwang sich auf einen Hocker.
»Ja! Natürlich! Balzac ist der wichtigste Romancier der Welt, und einige seiner Figuren haben sogar diejenigen Molières übertroffen! In unserer Zeit hätte er nicht den Mut aufgebracht, die
Menschliche Komödie
zu schreiben!«
»Aber«, entgegnete Michel, »er hat trotz allem recht grobe Sitten geschildert, und wie viele seiner Helden sind der Natur nachempfunden und würden nicht schlecht unter uns passen.«
»Gewiß«, antwortete Monsieur Huguenin, »aber wo sollte er all die Figuren wie de Marsay, Granville,
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