Paris im 20. Jahrhundert
höchste Strahl des Gestirns das Nachbardach, huschte rasch durchs Fenster herein, ließ sich wie ein Vogel auf der Ecke eines Regals oder auf dem Rücken eines Buches nieder, verharrte dort einen Augenblick lang zitternd und färbte in seinem Lichtschein die kleinen Staubteilchen bunt; nach einer Minute setzte er dann seinen Flug fort und verschwand bis zum nächsten Jahr.
Onkel Huguenin kannte diesen immergleichen Strahl; mit klopfendem Herzen und der Aufmerksamkeit eines Astronomen lauerte er ihm auf, badete in seinem wohltuenden Licht, richtete die alte Uhr nach seinem Vorüberziehen und dankte der Sonne, daß sie ihn nicht vergessen hatte.
Das war seine Kanone des Palais Royal, und sie gehörte ihm ganz allein; bloß wurde sie nur einmal im Jahr abgefeuert, und auch das nicht immer!
Onkel Huguenin vergaß nicht, Michel zu diesem feierlichen Besuch am 21. Juni einzuladen, und Michel versprach, dieses Fest nicht zu versäumen.
Das Mittagessen ging vorüber, es war bescheiden, aber von Herzen gerne dargeboten.
»Heute ist mein Galatag«, sagte der Onkel; »ich tische nämlich auf. Weißt du übrigens, mit wem du zu Abend essen wirst?«
»Nein, lieber Onkel.«
»Mit deinem Lehrer Richelot und seiner Enkelin, Mademoiselle Lucy.«
»Diesen ehrwürdigen Mann, lieber Onkel, werde ich wirklich mit großem Vergnügen wiedersehen.«
»Und Mademoiselle Lucy?«
»Die kenne ich nicht.«
»Nun, lieber Neffe, du wirst sie kennenlernen, und ich warne dich, sie ist bezaubernd und ahnt es nicht einmal! Also sage es ihr nicht«, fügte Onkel Huguenin lachend hinzu.
»Ich werde mich hüten«, antwortete Michel.
»Nach dem Abendessen werden wir alle vier, wenn es euch recht ist, einen ausgiebigen Spaziergang machen.«
»Ausgezeichnet, lieber Onkel! Auf diese Weise wird unser Tag vollkommen sein!«
»Nun, Michel, ißt du nichts mehr, trinkst du nichts mehr?«
»Doch, doch, lieber Onkel«, antwortete Michel, der nach Atem rang; »auf Euer Wohl.«
»Und auf deine Rückkehr, mein Kind; denn wenn du mich verläßt, will mir immer scheinen, es wäre für eine lange Reise! Ach! So etwas! Erzähl mir ein wenig von dir. Wie ergeht es dir im Leben! Laß einmal hören, siehst du, die Stunde der vertraulichen Mitteilungen ist angebrochen.«
»Nichts lieber als das, Onkel.«
Michel berichtete ausführlich über die winzigsten Einzelheiten seines Lebens, über seine Sorgen, seine Verzweiflung, über die Rechenmaschine, ohne das Abenteuer mit der überaus perfekten Registrierkasse zu unterschlagen, und schließlich über die besseren Tage, die er in den luftigen Höhen des Großen Hauptbuches verbracht hatte.
»Und hier«, sagte er, »bin ich meinem ersten Freund begegnet.«
»Aha! Du hast Freunde«, antwortete Onkel Huguenin und runzelte die Stirn.
»Ich habe zwei«, erwiderte Michel.
»Das ist viel, wenn sie dich hintergehen«, antwortete der gute Alte belehrend, »und das ist ausreichend, wenn sie dich lieben.«
»Ach! Onkel«, rief Michel lebhaft, »es sind Künstler!«
»Ja«, antwortete Onkel Huguenin und schüttelte den Kopf, »das ist eine Gewähr, ich weiß es wohl, denn die Statistiken für Zuchthäuser und Gefängnisse führen Priester, Rechtsanwälte, Geschäftsleute, Börsenmakler, Bankiers, Notare, jedoch keinen einzigen Künstler! Aber …«
»Ihr werdet sie kennenlernen, lieber Onkel, und mit eigenen Augen sehen, was für rechtschaffene junge Leute das sind!«
»Mit Vergnügen«, antwortete Onkel Huguenin; »ich mag die Jugend, vorausgesetzt, sie ist wirklich jung! Die frühzeitigen Greise sind mir immer wie Heuchler vorgekommen!«
»Oh! Für diese hier verbürge ich mich!«
»Also, Michel, mir will scheinen, daß sich deine Ideen trotz der Gesellschaft, in der du nun verkehrst, nicht verändert haben?«
»Ganz im Gegenteil«, meinte der junge Mann.
»Du wirst in der Sünde immer verstockter.«
»Ja, lieber Onkel.«
»Nun denn, du Unglücksrabe, beichte mir deine letzten Vergehen!«
»Nur allzu gern, liebster Onkel!«
Und der junge Mann trug mit begeisterter Stimme wunderschöne, wohl durchdachte Verse vor, die von echter Poesie durchdrungen waren.
»Bravo!« rief Onkel Huguenin hingerissen. »Bravo, mein Junge! Solche Dinge entstehen also immer noch! Du sprichst die Sprache jener vergangenen schönen Tage! Ach! Mein Sohn! Welche Freude und zugleich welchen Schmerz bereitest du mir!«
Der Alte und der junge Mann verharrten einige Augenblicke in Schweigen.
»Genug! Genug!« sagte Onkel Huguenin.
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