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Paris im 20. Jahrhundert

Paris im 20. Jahrhundert

Titel: Paris im 20. Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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divin!«
rief der Onkel. »Das ist ein Trunkenbold in spe!«
    »Und gestern! Gestern schon wieder!
Horresco referens
4 , ratet einmal, wenn ihr den Mut dazu habt, wie ein anderer den folgenden Vers aus dem vierten Buch der
Georgica
übersetzt hat:
immanis pecoris custos …
5 «
    »Mir scheint«, antwortete Michel.
    »Ich werde rot bis über die Ohren, wenn ich nur daran denke«, sagte Monsieur Richelot.
    »Also los!« erwiderte Onkel Huguenin. »Wie wurde dieser Absatz im Jahr der Gnade 1961 denn nun übersetzt?«
    »Gardien d’une épouvantable pécore«
6 , antwortete der alte Professor und verhüllte sein Gesicht.
    Onkel Huguenin konnte sich nicht daran hindern, lauthals herauszulachen; Lucy drehte mit einem Lächeln den Kopf zur Seite; Michel blickte sie traurig an; Monsieur Richelot wußte nicht, wohin er sich verkriechen sollte.
    »O! Vergil!« rief Onkel Huguenin aus. »Hättest du das je geahnt?«
    »Nun seht ihr selbst, liebe Freunde!« fuhr der Professor fort. »Da ist es schon besser, überhaupt nicht zu übersetzten, als so zu übersetzen! Noch dazu in der Rhetorik-Klasse! Soll man uns doch abschaffen, es wird das beste sein!«
    »Was werden Sie dann tun?« wollte Michel wissen.
    »Das, mein Kind, ist eine andere Frage; aber der Augenblick, sie zu lösen, ist noch nicht gekommen; wir sind hier, um uns zu zerstreuen …«
    »Nun, dann wollen wir zu Abend essen«, warf der Onkel ein.
    Während die Mahlzeit vorbereitet wurde, knüpfte Michel ein herrlich banales Gespräch mit Mademoiselle Lucy an, das voll von jenen charmanten Albernheiten war, unter denen zuweilen die wahren Gedanken hervorbrechen; mit ihren sechzehn Jahren hatte Mademoiselle Lucy das Recht, viel älter zu sein als Michel mit neunzehn, doch sie nutzte das nicht aus. Allerdings verdüsterten die Sorgen um die Zukunft ihre lautere Stirn und ließen sie sehr ernst erscheinen. Ihren Großvater, der ihr ganzes Leben war, betrachtete sie voller Unruhe. Michel fing einen dieser Blicke auf.
    »Sie lieben Monsieur Richelot sehr«, sagte er.
    »Sehr, Monsieur«, antwortete Lucy.
    »Ich auch, Mademoiselle«, fügte der junge Mann hinzu.
    Lucy errötete ein wenig, weil sie verstand, daß ihre Zuneigung und diejenige Michels sich in einem gemeinsamen Freund trafen; das war beinahe eine Vermischung ihrer innigsten Gefühle mit den Gefühlen eines anderen. Michel spürte das und wagte nicht mehr, sie anzuschauen.
    Doch Onkel Huguenin unterbrach dieses Tête-à-tête durch ein unüberhörbares »Zu Tisch«. Der benachbarte Feinkostladen hatte ein feines Abendessen aufgetragen, das eigens für diesen Anlaß bestellt worden war. Man setzte sich zum Schmaus.
    Eine kräftige Brühe und ein köstliches gekochtes Pferdefleisch, eine bis ins 18. Jahrhundert hinein überaus geschätzte Fleischsorte, die im 20. Jahrhundert wieder zu Ehren gekommen war, stillten den ersten Hunger der Tischgesellschaft; dann kam ein geschmackvoller Schinken vom Schaf, mit Zucker und Salpeter zubereitet, nach einer neuen Methode, die das Fleisch konservierte und ihm zugleich ein vorzügliches Aroma verlieh. Einige vom Äquator stammende und in Frankreich eingeführte Gemüsesorten, die gute Laune und der Schwung von Onkel Huguenin, der Liebreiz Lucys, die reihum bediente, Michels Gefühlsverfassung, alles trug dazu bei, dieses Familiengelage köstlich zu gestalten. Obwohl man es in die Länge zog, war es doch allzu schnell beendet, und das Herz mußte angesichts eines übermäßig befriedigten Magens klein beigeben.
    Die Tafel wurde aufgehoben.
    »Und nun«, sagte Onkel Huguenin, »muß dieser wundervolle Tag noch würdig ausklingen.«
    »Machen wir doch einen Spaziergang«, rief Michel.
    »Genau«, antwortete Lucy.
    »Aber wohin?« fragte der Onkel.
    »Zum Hafen von Grenelle«, sagte der junge Mann.
    »Ausgezeichnet. Eben erst ist die
Leviathan IV
dort eingelaufen, und so können wir dieses Wunderwerk bestaunen.«
    Die kleine Schar ging auf die Straße hinunter, Michel reichte dem jungen Mädchen seinen Arm, und sie steuerten unverzüglich den Eisenbahnring an.
    Endlich war also dieses famose Projekt, Paris zum Seehafen zu machen, Wirklichkeit geworden; lange Zeit hatte niemand daran glauben wollen; viele Leute hatten die Arbeiten am Kanal besichtigt, sich lauthals darüber lustig gemacht und ihr Urteil über dessen Nutzlosigkeit verkündet. Doch seit etwa zehn Jahren mußten sich die Skeptiker geschlagen geben.
    Die Hauptstadt drohte bereits, zu einem neuen Liverpool im Herzen

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