Pariser Bilder
die ihr schon diesen viel zu weiten schwarzen Mantel über die Schultern geworfen hat, der höchstens hinreicht, ihr das Leben noch mehr zu verleiden als die Kälte.
Ganz eingemummt in ihre dreifach umgeschlagenen Fichus, besitzt die Schwester jene kalte, unpersönliche Würde der Leute in Uniform, mit einer kleinen Beigabe von Selbstsicherheit, die ihr eigentümlich ist und die derjenigen sehr nahe kommt, an der man in einem öffentlichen Verkehrsmittel eine kleine Rentnerin erkennt, welche Aktienanteile einer Omnibusfirma besitzt.
Wie sie ihr Stundenbuch aus dem Ärmel zieht, das mit dem gleichen Wollstoff überzogen ist, den sie selber trägt, fühlt ihr Schatten sich gedrungen, gleichfalls etwas aus der Tasche zu ziehen, und da kommt ein Rosenkranz zum Vorschein, den sie linkisch in der Hand behält, da sie nichts damit anzufangen weiß. Das verdoppelt die Verlegenheit der Ärmsten, die nun, um etwas Haltung zu gewinnen, eine Zeitung aus ihrer Handtasche holt; diese aber erweist sich als ein frommes Blättchen, und die Frömmigkeit spiegelt sich auf diesem weltlichen Gesicht als Enttäuschung. So kann sie denn gar nichts sehen, hören, berühren, das nicht etwas Frommes wäre. Das ist wie ein Alptraum. Sie hält das Blatt verkehrt. Das macht nichts, denkt sie, es ist ihr gleich, ob sie es lesen kann, da ja doch nur lauter fromme Sachen drin stehn; es ist ihr gleich, ob sie lebt, weil sie, schwitzend vor Heuchelei, nur noch von Gnaden der Nächstenliebe lebt und weil die Nächstenliebe und die Heuchelei sich zusammengetan haben, ihr das Leben zu verbittern.
Nach einigen Minuten jedoch, von irgendeinem blinden Verlangen getrieben, dessen sie nicht Herr ist und das ihr nichts erspart, vielleicht auch nur, um nicht gar so lächerlich zu wirken zwischen diesem nutzlosen Rosenkranz und dem umgedrehten Zeitungsblatt, das sie bloß zu wenden brauchte, oder damit in ihrer Handtasche auch nicht eines der Utensilien zurückbleibt, die sie gegen sich selber kehren könnte, holt sie nun ebenfalls ein Stundenbuch hervor, ein kahles, uneingebundenes, das sich irgendwo aufschlägt, auf einer Seite, wo kein Kapitel beginnt, wo nicht einmal ein Absatz ist. Was macht es ihr aus? Zwischen den Zeilen verloren, läßt sie sich willenlos treiben, überzeugt, nur ein armseliges Geschöpf zu sein, das es niemals verstehen wird, im rechten Augenblick zu lächeln oder seinen Rosenkranz abzubeten oder sich ohne Lüge über ein Buch zu beugen. Da blickt sie denn über ihr Stundenbuch in die Welt hinein, und weil eben ein gräßlicher Bursche vom Bon Marche vor ihr steht, kommt es ihr in den Sinn, daß sie noch heute abend aus ihrem Kloster entwischen wird, um sich ein zweites Mal irgendwem hinzugeben, und daß sie sicher leiden wird, daß sie vielleicht vor Ekel sterben wird, daß sie dann aber wenigstens nicht mehr zu lügen braucht.
Der sentimentale Landstreicher
Das war ein seltsames Paar heute früh, in der Rue de Sevres: eine alte Klosterfrau vom Orden des heiligen Vinzenz von Paul und ein Mann, wie einem seinesgleichen seit langem schon in Paris nicht mehr begegnet: ein wirklicher Landstreicher, der Vagabund von einst, der ein wenig aus der Mode gekommene sentimentale Tippelbruder, mit seinem Mönchsgesicht und den salbungsvollen Gebärden. Die kurze Hose ließ die Knöchel frei; seine bindenumwickelten Füße staken in Holzschuhen, aber das Seltsamste war doch sein unförmiger Oberkörper, an dem eine Art Kasten hing, dessen Riemen über die Schultern liefen und den ein hin und her schwankender husarenblauer Umhang den Blicken entzog; wie ein flügelloser Vogel sah er darin aus. Kahlköpfig, schien er doch nicht älter als dreißig. Nicht das Unglück allein, ein schlimmerer Makel hatte ihn gezeichnet, aber der Rotz, der verhärtet wie ein Eiszapfen an seinem Schnurrbart hing, ließ ihn doch nicht eigentlich schmutzig erscheinen, obwohl sein Anblick Übelkeit erregte. Er ließ einen lediglich wissen, daß man kein Taschentuch besaß: das erste Zeichen, woran man das Elend erkennt.
Schon auf zehn Schritt Entfernung roch man den Heuchler, dann wieder, sehr flüchtig nur, lief ein Schimmer von Aufrichtigkeit durch sein scheinheiliges Gebaren und machte einen stutzig.
Ich ging dem Manne nach, als er die Schwester verlas-
sen hatte, wobei er ihr mit zwei erhobenen Fingern wie ein armer Schwärmer seinen Segen erteilte, zum Entgelt für einige klingende Münzen, die sie ihm hingezählt hatte. Schon näherte er sich einem
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