Partitur des Todes
meine das Blut.»
«Hast du schon eine Vorstellung, wie es passiert sein könnte?»
Thea Hollmann schaute Marthaler an, als sei sie nicht sicher, wie viel sie ihm zumuten durfte, wie weit sie in die Details gehen sollte.
«Thea, erzähl! Du musst mich nicht schonen.»
«Ich nehme an, dass sie im Schlaf überrascht wurde.»
«Davon gehen wir aus. Der Mann ist wahrscheinlich in die Wohnung eingedrungen, während sie im Bett lag. Vielleicht hat sie ihn kommen hören. Wenn du mich fragst, sieht es so aus, als habe sie noch versucht, ins Badezimmer zu fliehen.»
«Sie muss große Angst gehabt haben. Vielleicht hat sie einen Schock bekommen. Ihr Blutdruck muss sehr hoch gewesen sein.»
«Das schließt du aus der Verteilung der Blutspritzer an den Wänden?»
«Ja. Ihr Herz hat gearbeitet wie verrückt. Der Mann ist von hinten an sie herangetreten. Mit Sicherheit hat sie versucht, sich zu wehren. Vielleicht haben wir Glück, und ich finde Gewebespuren unter ihren Fingernägeln…»
«Mach dir keine allzu großen Hoffnungen», sagte Marthaler. «Nach allem, was wir wissen, ist der Täter ein Profi. Wahrscheinlich hat er sogar ihre Gegenwehr eingeplant. Aber mach weiter…»
«Er hat sie von hinten festgehalten, wahrscheinlich hat er ihren Kopf an den Haaren in den Nacken gezerrt,sodass die Vorderseite ihres Halses sich dem Messer regelrecht entgegengewölbt hat.»
Unwillkürlich machte Marthaler die Bewegung nach, die Thea Hollmann gerade beschrieben hatte.
«Er hat das Messer hier angesetzt.» Sie tippte mit der Spitze des Zeigefingers unter ihr linkes Ohrläppchen. «Er hat ihr einen tiefen Stich unter den Kieferknochen versetzt. Dann hat er ihr mit einem einzigen Schnitt die Kehle durchtrennt.» Jetzt zog sie ihre Fingerspitze halbkreisförmig über den eigenen Hals und machte unter dem anderen Ohrläppchen halt.
Marthaler schluckte und fuhr sich mit der Hand an den Adamsapfel.
«Muskeln, Sehnen, Nerven, Luftröhre, Speiseröhre und die Halsschlagadern waren sofort durchtrennt.»
«Das heißt, sie war auf der Stelle tot?»
«Was ein Laie so tot nennt. Ihr Herz hat noch gearbeitet. Das Ergebnis hast du gesehen. Sie ist fast vollständig ausgeblutet. Wahrscheinlich war sie aber sofort bewusstlos, da die Sauerstoffversorgung des Gehirns unterbrochen war.»
«Ist dir ein ähnlicher Fall schon mal begegnet? Kannst du irgendwelche Schlüsse ziehen aus dem, was du bislang gesehen hast?»
«Wir bekommen jedes Jahr etwa dreißig bis fünfunddreißig Kunden auf den Tisch, die durch scharfe Gewalt ums Leben kamen. Dabei handelt es sich nur bei etwa fünfzehn Prozent um Selbsttötungen. Bei allen anderen Fällen haben wir es mit Totschlag oder Mord zu tun. Dabei sind Schnittverletzungen als Todesursache allerdings selten. Meist sticht der Täter zu. Das Schneiden übernehmen die Selbstmörder.»
«Also?»
«Also: Nein, mir ist ein solcher Fall noch nie begegnet. Dennoch könnte es sich lohnen, den Modus Operandi durch euren Zentralcomputer laufen zu lassen. Vielleicht ist irgendwo schon mal etwas Vergleichbares passiert.»
«Ja», sagte Marthaler, «das werden wir machen.»
«Eine Sache geht mir noch durch den Kopf. Vielleicht liege ich völlig schief…»
«Bitte, Thea! Egal, was es ist, sag es. Es gibt nichts, was wir nicht bedenken sollten. Verwerfen können wir deinen Gedanken immer noch. Und bestimmt werde ich dich nicht auslachen.»
Trotzdem schien es der Gerichtsmedizinerin wie den meisten Naturwissenschaftlern nicht zu behagen, sich auf das Gebiet der Spekulation zu begeben.
«Weißt du, was eine Schächtung ist?»
«Soviel ich weiß, geht es dabei um die Schlachtung von Tieren. Mehr weiß ich leider nicht…»
«Dann weißt du schon die Hauptsache. Sowohl im Judentum als auch im Islam istdas Schächten die vorgeschriebeneArt, nach derein Tier geschlachtet werden muss. In beiden Religionen ist der Genuss von Blut verboten. Es geht darum, dass das Schlachttier vor der Zubereitung und dem Verzehr möglichst rückstandslos ausblutet.»
«Du willst doch nicht etwa andeuten, dass wir es mit einemAkt von Kannibalismus zu tun haben?»
«Nein,das sicher nicht. Dafür müssten noch ein paar mehr Kriterien erfüllt sein. Trotzdem ist hier auf eine Weise getötet worden, die große Ähnlichkeit mit dieserArt des Schlachtens hat.»
«Inwiefern?»
«Das Schächten unterliegt strengen Regeln. Es muss miteinem sehr scharfen Messer ausgeführt werden. Der Schnitt darf nur am Hals ausgeführt werden. Und er darf
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