Partitur des Todes
Leib. Sie deckte sie gegenüber den Vorgesetzten. Und sie musste immer wieder taktieren, um den politischen Druck nicht zu groß werden zu lassen.
«Du musst uns noch etwas Zeit geben», sagte Marthaler. «Auch wenn sich die Ereignisse überschlagen und die Informationen immer unübersichtlicher werden, mit etwas wirklich Neuem über den Täter können wir immer noch nicht dienen.»
Er schaute in die Runde. Kerstin Henschels Gesicht hatte sich gerötet. Es schien ihr nicht leicht zu fallen, ihm öffentlich zuwidersprechen, trotzdem tat sie es: «Nein, Robert. Ich bin andererAnsicht.Allein, dass der Mann wieder zugeschlagen hat, sagt uns etwas über ihn.Auch dieser neue Mord erzähltuns eine Geschichte.»
«Bitte, Kerstin, dann erzähl uns diese Geschichte!», sagte Charlotte von Wangenheim. «Ich wäre sogar mit einer Kurzgeschichte zufrieden.»
«Das kann ich nicht. Wir müssen sie uns gemeinsam erarbeiten. Wir sind alle auf demselben Stand.»
«Aber du kannst den Anfang machen.»
«Gut. Ich werde es versuchen. Immerhin gibt uns der Täter die Information, dass er die Stadt nicht verlassen hat. Er hat am Donnerstag fünf Menschen getötet und befindet sich am Sonntag noch immer in der Nähe des Tatorts. Warum tut er das? Warum begibt er sich in Gefahr?Also stellt sich die Frage, ob er hier wohnt.»
Die anderen überlegten eine Weile. Kai Döring erhob den ersten Einwand: «Er muss nicht hiergeblieben sein. Vielleicht ist er zurückgekommen.»
«Viel Zeit hat er dafür jedenfalls nicht gehabt. Die Sonderausgabe des City-Express ist heute Morgen um fünf Uhr an den Verkaufsstellen gewesen, das habe ich recherchiert. Dort hat er sein Phantombild gesehen; dort hat er erfahren, dass Eva Helberger ihn bei einer Gegenüberstellung auf jeden Fall wiedererkennen würde. Ihr Tod ist gegen 8.30Uhr eingetreten…»
«In dreieinhalb Stunden kann man eine ziemliche Strecke zurücklegen.»
«Das hieße aber, dass er die Zeitung, sofort als sie ausgeliefert wurde, gelesen hat – was einigermaßen unwahrscheinlich ist.Außerdem erscheint der City-Express nur im engeren Rhein-Main-Gebiet. Von weit her kann er also nicht gekommen sein.»
«Warum nicht? Jemand anderes könnte den Artikel gelesen und ihn benachrichtigt haben.»
«Daran habe ich ebenfalls gedacht», sagte Kerstin Henschel. «Aber wer sollte das gewesen sein? Jemand, der ihn zufällig auf dem Phantombild erkannt hat? Jemand, der in die Verbrechen eingeweiht ist?»
«Oder mehr noch: jemand, der ihm den Auftrag gegeben hat, diese Verbrechen zu begehen», sagte Marthaler.
«Ich weiß nicht, Robert. Ein Profi würde das nicht machen, er würde nicht drei Tage in der Nähe bleiben. Er würde umgehend abtauchen. Ein Auftragskiller würde sich in Luft auflösen. Es sei denn…»
«Es sei denn, sein Auftrag ist noch nicht erledigt», ergänzte Charlotte von Wangenheim.
Für einen Moment herrschte völlige Stille.Alle schienen sich auszumalen, was es bedeutete, wenn die Chefin der Mordkommissionrecht hatte.Aber niemand schien den Gedanken zu Ende führen zu wollen.
Noch einmal ergriff Kerstin Henschel das Wort.
«Außerdem stimmt es nicht: Er hat nicht so viel Zeit gehabt, wie Kai vermutet. Er hat zwischen halb sieben und sieben bei Eva Helbergers Freundin angerufen. Erst um diese Zeit hat er erfahren, dass sein nächstes Opfer nicht mehr in Haunetal ist.Also bleiben noch anderthalb bis zwei Stunden.»
Marthaler stutzte. Er hatte das Gefühl, dass sie etwas übersehen hatten. Dann sprang er auf.
«Verdammt. Wie konnte der Täter wissen, dass er in Haunetal anrufen muss? Wenn wir davon ausgehen, dass er Eva Helberger nur aus demCity-Express kannte, dann hat er dort, genau wie wir, das Foto gesehen, auf dem sie vor diesem Fachwerkhaus steht. Ein Haus, das überall stehen könnte.»
«Vielleicht kannte er die Gegend, vielleicht hat er ebenfalls dort Urlaub gemacht», sagte Kurt Delius.
«Kurt, bitte. Das glaubst du selbst nicht. Der Zufall wäre zu groß», erwiderte Horst Becker.
«Dann gibt es eigentlich nur eine Möglichkeit», rief Marthaler. «Er hat die Information direkt aus der Redaktion. Irgendwer dort hat geplaudert. Wahrscheinlich nicht Arne Grüter, so dumm kann er nicht sein, wahrscheinlich auch nicht der Fotograf.Aber irgendjemand hat dem Mörder den entscheidenden Hinweis gegeben. Uns gegenüber berufen sie sich auf den Informantenschutz, gleichzeitig schaffen sie es nicht, ihren Laden sauberzuhalten. Und wenn meine Vermutung stimmt, dann haben
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