Partitur des Todes
gar nicht.»
«Wir denken zu klein. Wir sind zu dicht dran. Ich glaube, dass wir etwas übersehen haben.»
Marthaler war aufgestanden. Nun zog er doch seine Mentholzigaretten aus der Jackentasche und ließ sich von seiner Chefin Feuer geben.
«Seltsam, ja, fast dieselbe Formulierung hat Sabato benutzt», sagte er.
«Halt dich einfach mal raus aus demAlltagsgeschäft, bitte. Ein, zwei Tage. Vielleicht bist du auch morgen Mittag schon so weit. Nimm dir ein bisschen Zeit, über den Fall nachzudenken. Setz dich auf dein Rad und fahr ein wenig durch die Gegend. Entspann dich, mach dich locker. Wir brauchen jemanden, derAbstand gewinnt und von außen auf die Geschichte schaut. Der Täter hat uns in ein Hamsterrad geschickt. Und das dürfen wir nicht zulassen. Was machen wir, wenn er morgen nochmal zuschlägt? Fangen wir dann wieder an zu rotieren? Brauchen wir dann noch mehr Leute, die den Kleinkram erledigen?»
Marthaler hob die Schultern. «Ich weiß es nicht, Charlotte. Und ich will nicht daran denken.»
«Hast du den Film über den alten Mann gesehen, über Monsieur Hofmann?»
«Habe ich.»
«Die Pariser Kollegen haben leider vergeblich versucht, ihn zu erreichen. Er scheint vor den Journalisten geflohen zu sein.»
«Was sollte er uns mitzuteilen haben? Er wirkte vollkommen ahnungslos.»
«Das meine ich nicht. Erinnerst du dich, was auf dem Umschlag stand, den er erhalten hat?Auf dem Umschlag, in dem die Partitur steckte?»
«Sein Name.»
«Ja. Und der Name seines Vaters. Und das Wort ‹Auschwitz›.»
«Und?»
«Ich weiß nicht, ob es irgendwohin führt.Aber denk einfach mal drüber nach, ob das Ganze etwas mitAuschwitz zu tun haben könnte!» Kerstin Henschel betrat den Hausflur und tastete nach dem Lichtschalter. Die Lampe war noch immer kaputt. Sie hatte dem Hausmeister schon vor einer Woche Bescheid gesagt, aber es war noch immer nichts geschehen. Langsam stieg sie die Treppen hinauf, bis siean ihrer Wohnungstür angekommen war.Als sie gerade den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte, zuckte sie zusammen. Jemand war von hinten an sie herangetreten und hatte sie am Ärmel gezupft. Sie drehte sich um und sah Manfred Petersen in der Dunkelheit stehen. Sie schaute ihn an, als sei er ein Gespenst.
«Was willst du hier? Lauerst du mir jetzt auf?»
«Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.»
«Was soll das? Was hast du hier zu suchen?»
«Kerstin, schließlich… sind wir…», sagte Petersen zögernd, dann brach er mitten im Satz ab.
«Was sind wir, Manfred? Freunde? Kollegen? Es stimmt beides nicht mehr.»
«Kerstin, bitte. Können wir nicht reingehen?»
«Können wir nicht! Wir gehen runter! Ich werde dich begleiten, um sicherzugehen, dass du nicht länger hier herumlungerst.»
Sie drängte sich an ihm vorbei und stieg die Treppen wieder hinab. Sie öffnete dieHaustür und wartete, dass Petersen ins Freie ging.
«Also:Warum bist du hier?», fragte sie, als er keine Anstalten machte, sich zu entfernen.
«Ich wollte dich treffen.»
«Und?»
«Wir müssen reden.»
«Nein, müssen wir nicht. Ich weiß nicht, wie oft ich in den letzten Tagen versucht habe, dich zu erreichen. Du warst nicht zu Hause, und du bist nicht an dein Handy gegangen. Du hast alles getan, um zu verhindern, dass ich mit dir reden kann. Und jetzt will ich nicht mehr!»
«Ich weiß, dass ich mich nicht korrekt verhalten habe. Ich weiß, dass ich euch alle in Verlegenheit gebracht habe.»
«So kann man es ausdrücken, wenn man freundlich sein will.Aber ich will nicht freundlich sein. Du hast unsere Freundschaft mit Füßen getreten, du hast mein Vertrauen missbraucht, du hast gegen alles verstoßen, was mir wichtig ist.»
«Es ist, wie es ist. Ich bin schwul.»
«Und? Weiter? Wofür soll das eine Entschuldigung oder auch nur eine Erklärung sein?»
«Dass ich nicht länger Polizist sein kann.»
«Das sehe ich ganz und gar nicht so. Vielleicht ist es schwerer, ein schwuler Polizist zu seinals ein schwuler Balletttänzer oder ein schwuler Friseur.Aber auch wir brauchen Leute, die anders sind und die den Mut haben, das zu zeigen.»
«Vielleicht bin ich dazu nicht stark genug.»
«Vielleicht. Also dann…»
Sie war im Begriff, wieder ins Haus zu gehen, als Petersen seine Hand auf ihre Schulter legte.
«Nein, warte. Ich möchte…»
«Was, Manfred? Dass zwischen uns alles so bleibt, wie es war? Dass wir wieder Freunde sind?»
Petersen schaute zu Boden.
Kerstin Henschel schüttelte den Kopf. «Nein. Jedenfalls
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