Partitur des Todes
nicht jetzt. Irgendwann vielleicht wieder. Jetzt brauche ich Abstand zu dir. Und zwar eine ganze Weile.»
Wieder wandte sie sich von ihmab. Diesmal verstand er, dass er nicht noch einen Versuch unternehmen durfte. Er ließ dieArme sinken und drehte sich um. Kerstin Henschel hörte, wie sich seine Schritte auf dem Kiesweg langsam entfernten.
Dritter Teil
Eins
Der Zug aus Paris fuhr um 17.39Uhr inden Frankfurter Hauptbahnhof ein. Monsieur Hofmann setzte seinen Strohhut auf, stieg aus und nahm den kleinen Koffer entgegen, den Mademoiselle Blanche ihm reichte. Er trug das Gepäck in der Linken und streckte ihr seine Rechte entgegen. Hand in Hand gingen sieüber den Bahnsteig, wo sie von jenen Reisenden überholt wurden, die es eiliger hatten als sie. Monsieur Hofmann steuerte auf den großen Zeitschriftenladen zu, bat Mademoiselle Blanche zu warten und ging hinein. Er kaufte eine Tageszeitung und einen Stadtplan und fragte den Mann an der Kasse, wo der Taxistand sei.
Die beiden Alten durchquerten die Bahnhofshalle und betraten den großen Vorplatz. Monsieur Hofmann schaute sich um, dann schüttelte er den Kopf und lächelte seine Freundin unsicher an: «Was sagst du nun, wir sind in Frankfurt. Wer hätte das gedacht.»
Sie stiegen in ein Taxi und ließen sich ins nördliche Westend bringen.Als sie in die Liebigstraße bogen, bat Monsieur Hofmann den Chauffeur,langsamerzu fahren. Plötzlich wurde er aufgeregt. «Hier», rief er, «halten Sie! Wir sind da. Hier ist es.»
Sie standen vor einem fünfstöckigen Altbau, dem ein winziger Garten vorgelagert war. Die Fassade schien erst kürzlich einen neuenAnstrich erhalten zu haben. Das Altrosa der Wände stand in schönem Kontrast zum dunkelroten Sandstein der Fenstereinfassungen. Rechts und links standen ähnliche Häuser, alle wirkten freundlich und gepflegt.
Monsieur Hofmann lief auf demBürgersteig auf und ab. «Fast hätte ich es nicht erkannt. Früher war die Fassade weiß.Aber so ist es schöner. Und schau nur, wie der Ahorn gewachsen ist.»
Dann legte er einen Arm um Mademoiselle Blanches Schulter und zeigte auf einesder Fenster im Erdgeschoss: «Siehst du, dort, wo jetzt die Geranien stehen, das war mein Zimmer.Oft hab ich abends hinter der Scheibe gesessen und hab gewartet, dass Papa nach Hause kommt. Immer hat er seinen Hut gezogen, mich stumm gegrüßt, und dann hat er getan, als würde er an unserem Haus vorübergehen, nur, um gleich darauf umzukehren und zu warten, dass ich ihm dieHaustür öffne.»
Mademoiselle Blanche sah ihn an und drückte seine Hand.
«Was ist?», fragte er. «Warum schaust du so? Du lachst mich aus, oder?»
«Nein», erwiderte sie. «Überhaupt nicht. Es gefällt mir, dich so zu sehen.»
«Wie zu sehen?»
«So aufgeregt, so lebendig. Es tut dir gut, dass du dich an deine Kindheit erinnerst. Was meinst du, willst du nicht einfach klingeln und fragen, ob man dich eure alte Wohnung anschauen lässt?»
Eine halbe Minute lang dachte Monsieur Hofmann nach. Seinem Mienenspiel war abzulesen, wie er das Für und Wider ihres Vorschlags abwog. Dann schüttelte er entschlossen den Kopf. «Nein, das will ich nicht. Wer weiß, wie es jetzt dort aussieht. Lieber möchte ich es so in Erinnerung behalten, wie es war.»
Dann drehte er sich um und zeigte auf das gegenüberliegende Haus. «Dort oben im dritten Stock hab ich in jener Nacht gestanden, als die Männer kamen und meine Eltern wegbrachten.»
Mademoiselle Blanche ließ ihm Zeit. Sie wollte, dass er sich erinnerte.An das einewie an das andere. Sie hatte sich in den vergangenen Jahrzehnten oft gewünscht, dass er mehr von sich erzählte. Manchmal war er ihr vorgekommen wie ein halber Mensch, wie ein Mann ohne Kindheit. Dennoch warihr klar gewesen, dass sie ihn nicht drängen durfte. Dass es eine Grenze gab und dass sie nicht das Recht hatte, diese Grenze mit ihren Fragen zu überschreiten. Jetzt endlich war es so weit; endlich war er bereit.
Aus dem gegenüberliegenden Haus trat eine Frau mit einer Einkaufstasche auf die Straße, überquerte die Fahrbahn und wollte gerade in ihren Wagen steigen, als Monsieur Hofmann sie ansprach: «Entschuldigen Sie, meine Dame, wissen Sie, ob es in der Nähe ein Hotel gibt?»
Einen Moment schien die Frau sich über die umständliche Höflichkeit des alten Herrn zu amüsieren. Sie überlegte kurz. «Aber ja, natürlich», sagte sie. «Nur ein paar hundert Meter weiter gibt es ein kleines Hotel. Es soll sehr schön sein. Ich war noch nie drin,
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