Partitur des Todes
einem Paket, das er zwischen seinen Beinen abgestellt hatte.
«EinAquarell von Max Beckmann. Ich habe es gerade abgeholt. Ein amerikanischer Offizier hat es 1945 aus der Wohnung mitgenommen, in der er einquartiert war. Jetzt liegt der Mann im Sterben und will sein Gewissen erleichtern. Weil er keine Erben gefunden hat, hat er es unserem Museum vermacht. Hast du Zeit, wollen wir zu mir fahren und das Bild anschauen? Komm, bitte, sag ja!»
Tereza dachte nach. Einerseits wollte sie so rasch wie möglich nach Hause: Sie sehnte sich nach Marthaler,nach einer Dusche und nach ihrem Bett.Andererseits war sie neugierigauf dasAquarell und freute sich über das unverhoffte Wiedersehen mit ihrem Studienfreund, in dessen Gegenwart sie sich sofort wieder wohl fühlte.
«Nein, ich habe keine Zeit», sagte sie und sah, wie die Enttäuschung Ludwig Dormanns Miene verfinsterte. «Aber auf halbe Stunde kommt nicht an!»
Lachend gab er ihr einen Kuss auf die Wange. «Dann los, worauf warten wir noch? Mein Wagen steht in der Tiefgarage!»
Auf der Fahrt in die Stadt tauschten sie Erinnerungen an ihre gemeinsamen Bekannten aus, sprachen über dieAbende, die sie zusammen am Ufer der Moldau und in den Kneipen der PragerAltstadt verbracht hatten und näherten sich in ihrer Unterhaltung schließlich vorsichtig der Gegenwart.
«Und die Blüten?», fragte Tereza und schaute Dormann von der Seite an.
Ohne ihren Blick zu erwidern, hob er die Brauen. «Ach weißt du, auch Schmetterlinge werden älter… Erzählvon dir! Was machst du, wenn du keineAusstellung vorbereitest?»
«Ich bin schwanger, Ludwig.»
Abrupt stieg Dormann auf die Bremse. Fast hätte er eine roteAmpel übersehen. Er schaute Tereza an. «Das ist schade», sagte er. «Entschuldige… nein, es freut mich für dich.Aber es wäre mir lieber, du würdest ein Kind von mir bekommen.»
«Ludwig, bitte!»
«Ich meine es ernst, Tereza. Du bist die einzige Frau, mit der ich gerne ein Kind gehabt hätte.»
«Ludwig, hör bitte auf!»
«Ja, ich höre auf. Freust du dich? Bist du glücklich?»
Tereza zögerte einen Moment. «Ja», sagte sie dann. «Ichfreue mich.Aber ich gehe mit Polizist. Und das istnicht immer einfach.»
«Einfach ist es wohl nie», sagteDormann. Und Tereza schloss aus seinerAntwort, dass er nicht nur älter, sondern auch reifer geworden war, und dass er Erfahrungen gemacht haben musste, die ihm seine frühere Unbeschwertheit genommen hatten.
Kurze Zeit später hatten sie das Nordend erreicht und bogen ab in die Schwarzburgstraße. Dormann bewohnte eine geräumige Altbauwohnung, in der es nach frischer Farbe roch und an deren Wänden sich die Umzugskartons stapelten.
«Du siehst selbst», sagte er, «meine Sachen sind gerade erst gekommen. Ich habebis vorige Woche im Hotel gewohnt. Wir können nur in die Küche gehen oder ins Schlafzimmer.»
«Ludwig, ich habe eilig. Lass uns das Bild anschauen, dann ich muss los!»
«Okay, okay, ich habe verstanden.»
Dormann legte das Paket auf den Küchentisch und bat Tereza, Platz zu nehmen. Seine Wangen waren gerötet, als er nervös an der Verschnürung zu fingern begann. Und Tereza ließ sich von seinerAufregung anstecken. Endlich lag dasAquarell vor ihnen.
Es warmit breiten Pinselstrichen ausgeführt und zeigte eine Strandszene: Eine junge Frau ruhte auf einem Liegestuhl. Der Kopflag entspannt auf ihrer linken Schulter. Sie hatte dieAugen geschlossen. Unter dem kurzen Rock konnte man ihr Geschlecht sehen. Neben ihr stand ein nackter Mann, dessen Gesicht unverkennbar die Züge des Künstlers trug. Die Frau hatte ihre linke Hand sachte auf den Oberschenkel des Mannes gelegt. Sein Penis reckte sich neben ihrem Kopf in die Höhe.
Tereza schlug sich kurz die Hand vor die Augen. «Ludwig, du hättest mich warnen müssen.»
«Tereza, entschuldige, ich wusste nicht, wie… drastisch das Bild ist.»
«Allerdings», sagte sie. «So kann man sagen.»
«Aber schön ist es auch», meinte Dormann.
«Ja», sagte sie und konnte sichein Lächeln nicht verkneifen. «Es ist sehr schön. Die beiden sehen sehr zufrieden aus.Aber ich glaube, ist besser, wenn ich jetzt gehe.»
«Werden wir uns sehen?», fragte Ludwig Dormann, als er Tereza, die es jetzt sehr eilig zu haben schien, an der Wohnungstür verabschiedete.
«Ja», sagte sie. «Ich fürchte, das werden wir wollen.» Marthaler war mit seinem Rad vom Weißen Haus durch die Stadt nach Sachsenhausen gefahren. Noch immer wares warm. Vor den Cafés und Gaststätten saßen die
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