Partitur des Todes
Leute an ihren Tischen und genossen die letzten Stunden des Wochenendes.
Als er die Steigung des Großen Hasenpfads hinter sich hatte und vor seiner Haustür stand, war er außerAtem. Er merkte, dass er wieder mehr Sport treiben musste. Er nahm sich vor, so bald wie möglich ein paar Tage freizunehmenund mit Tereza ins Elsass zu fahren, wo sie tagsüber wandern und sich abends mit einem guten, aber nicht zu schweren Essen belohnen würden.
Als er das Rad in den Keller gebracht hatte und die Treppe zu seiner Wohnung hinaufstieg, hielt er plötzlich inne. Er bemerkte den strengen Geruch im Treppenhaus. Es roch nach den Ausdünstungen eines ungepflegten Menschen. Dann erinnerte er sich an den Obdachlosen, dem er schon zweimal in der Nähe des Hauses begegnet war. Es war derselbe Geruch. Der Mann musste im Hausflur gewesen sein. Oder er hielt sich noch immer hier auf. Marthaler lauschte. Er hatte den Mann schon fast wieder vergessen gehabt, und jetzt war er wieder da.
Er ging an seiner Wohnungstür vorbei und stieg weiter hinauf ins letzte Stockwerk. Es war niemand zu sehen.
«Hallo, ist hier jemand?», rief er.
Aber alles blieb ruhig.
Als er seine Wohnung betrat, steckte er den Schlüssel von innen ins Schloss und drehte ihn zweimal herum.
Er ging an den kleinen Schreibtisch im Wohnzimmer und schaltete seinen Computer ein.
Dann holte er das Telefon und wählte Terezas Nummer. Es meldete sich nur die Mailbox. «Wo bist du? Wann kommst du?», fragte er. Und dann nach einer kurzen Pause: «Ich liebe dich. Ich möchte dich sehen. Komm bald zurück.» Er holte sich ein Glas Wein und setzte sich vor den Rechner. Er wählte sich ins Internet ein und schaute auf die Maske der Suchmaschine, die er als Startseite festgelegt hatte.
Dann tippte er das Wort «Auschwitz» und wartete auf die Ergebnisse. Es wurden über neun Millionen Treffer gemeldet. Lange starrte er auf den Bildschirm, ohne etwas zu tun.
In der Schule hatten sie oft über die Zeit des Nationalsozialismus gesprochen. Er erinnerte sich noch an das nervöse Gelächter, das im Klassenraum entstanden war, als die Lehrer ihnen Bilder von den halbverhungerten Menschen und von den Leichenbergen in Birkenau zeigten. Im Deutschunterricht hatten sieAnna Seghers’ Roman «Das siebte Kreuz» gelesen, der von der Flucht eines Lagerhäftlings erzählte.
Marthaler hatte das meiste wieder vergessen. Es war, als weigere sich sein Gedächtnis, ihn auf Dauer mit den grausamen Einzelheiten zu belasten. Geblieben war ein leises Unbehagen und ein diffuses Schuldgefühl. Mehrmals hatte er sich bereits mit Kollegen angelegt, wenn einer von ihnen einen Judenwitz erzählte oder, wie es auch schon vorgekommen war, die Existenzder Gaskammern bezweifelte. Und erst kürzlich hatte man ein Verfahren gegen zwei Polizisten eingeleitet, weil sich herausgestellt hatte, dass sie die Texte von Nazi-Liedern sammelten und sich stolz in SS-Uniform hatten fotografieren lassen. Beide waren als Personenschützerfür ein prominentes Mitglied der Jüdischen Gemeinde eingesetzt gewesen.
Aber auch er selbst wich dem Thema aus. Wenn in der Zeitung ausAnlass eines Jahrestages eine Dokumentation über die Jahre zwischen 1933 und 1945 erschien, blätterte er weiter. Wenn irgendwo der Vortrag eines Überlebenden angekündigt wurde, hatte er an diesemAbend anderes vor. Er bezweifelte nichts von den Dingen, die damals geschehen waren, trotzdem reagierte er wie die meisten Menschen: Er wollte es nicht so genau wissen. Erwollte sich nicht mit den schrecklichen Bildern und Geschichten belasten. Er war dafür, dass man die Kinder und Jugendlichen über die Verbrechen aufklärte, aber er war der Meinung, dass seine eigenen Kenntnisse ausreichten.
Jetzt merkte er, dass er allenfalls eine vageAhnung hatte. Da er nicht wusste, wo er anfangen sollte, klickteer einfach den ersten Link an. Es war die Seite der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau.Von hier aus arbeitete er sich weiter vor. Binnen kurzem hatte er das Gefühl, als habe man ihn in die Hölle gestoßen.
Manchmal wollte er sich weigern zu glauben, was er las, so ungeheuerlich waren die Geschehnisse. Dann erfuhr er, dass dies eine Reaktion war, die den überlebenden Häftlingen oft begegnet war.Als sie versucht hatten, von ihren Erlebnissen im Lager zu erzählen, verspottete man sie. Man lachte sie aus. Es hieß,Auschwitz habesie verrückt gemacht. Selbst bei ihren Freunden stießen sie auf Misstrauen.
Zum ersten Mal erfuhr Marthaler von den jüdischen
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