Partitur des Todes
Sonderkommandos. Sie bestanden aus Häftlingen, diegezwungen wurden, den SS-Leuten bei der Ermordung Hunderttausender Deportierter zu helfen. Sie mussten die Todgeweihten in die Entkleidungsbaracken und zu den Gaskammern begleiten, mussten später den Toten die Haare abschneiden und die Goldzähne herausbrechen, um die Leichen dann in den Krematorien und auf den Scheiterhaufen zu verbrennen, die zurückgebliebenen Knochen zu zerstampfen und zusammen mit derAsche in die Weichsel zu kippen. Oftmals entdeckten die Mitglieder der Sonderkommandos vor den Türen der Gaskammern ihre eigenen Angehörigen, die im Glauben gelassen wurden, man würde sie einer gründlichen Reinigung unterziehen und dann zu einemArbeitseinsatz schicken.
Wenn die Zahl der Selektierten zu klein war, um mit ihnen eine der Gaskammern zu füllen, entschied man sich dafür, sie zu erschießen. Ein Häftling erzählte folgende Geschichte: «Einer der Lagerärzte hatte eine Gruppe von etwa zwanzig kranken Frauen als nicht mehr einsatzfähig eingestuft. Sie wurden auf den Platz vor den Gruben getrieben. Die SS-Männer, die dort ihren Dienst versahen, waren bereits angetrunken. Sie töteten die Frauen nicht wie sonst mit Genickschüssen, sondern indem sie ihre Opfer als Zielscheiben benutzten. Eine Frau warf sich im letzten Moment schützend über ihr Baby, das sie imArmmit sich trug.Die Mutterwar nach ein paar Schüssen tot, aber ihr Kind blieb unversehrt. Einer der SS-Leute ging hin, trat dem Baby auf den Hals und warf es dann – es lebte noch immer– in die brennende Grube.»
Marthaler lehnte sich zurück.Auf dem Bildschirm war das Bild einer Frau zu sehen, die mit ihren Kindern die Lagerstraße entlangging. Obwohl keines der Gesichter auf dem Foto zu erkennen war, hatte Marthaler den Eindruck, nie zuvor etwas so Verlorenes gesehen zu haben.
Er schloss dieAugen und schüttelte den Kopf. Das wirdnicht wieder gut, dachte er. Egal, wie viel Zeit seitdem vergangen ist,egal, wie viel Zeit noch vergehen wird, das kann niemals wieder gut werden. Als er hörte, dass jemand am Schloss seiner Wohnungstür hantierte, schreckte er aus seinen Gedanken auf. Er wusste nicht, wie lange er so gesessen hatte. Er ging in den Flur und lauschte. Dann vernahm er ein zaghaftes Klopfen.
«Wer ist da?», fragte er leise.
Er hörte Terezas Stimme: «Robert? Bist du da?»
Er drehte den Schlüssel im Schloss und öffnete die Tür. Tereza sah ihn mit großen Augen an. Neben ihr stand ihre Reisetasche.
Wortlos zog er sie an sich und nahm sie in den Arm. Er legte den Kopf auf ihre Schulter und wiederholte ein ums andere Mal ihren Namen.
Zaghaft löste sie sich aus seiner Umklammerung. «Komm», sagte sie, «lass uns reingehen.»
Er nahm ihre Tasche und wandte seinen Kopf ab. Er wollte nicht, dass sie seine Tränen sah. Dann ging er in die Küche, um ihr ein Glas zu holen.
«Was ist mit dir?», fragte sie, als sie sich im Wohnzimmer gegenüberstanden. «Und was ist das da?» Sie zeigte auf das Foto, das noch immer auf dem Monitor des Computers zu sehen war.
«Nichts. Ich bin einfach ein bisschen durcheinander.» Er beeilte sich, den Bildschirm auszuschalten. «Ich habe noch gearbeitet. Und ich freue mich, dass du da bist. Ich habe versucht, dich anzurufen…»
«Ja, ich bin mit Flugzeug gekommen, und die Telefon war aus…Aber warum… was ist mit deineAugen?»
Er schüttelte den Kopf. «Es ist nichts. Es ist nur gerade alles ein bisschen viel.»
Sie trat einen Schritt näher und lächelte ihn an. Sie streichelte ihm über die Wange. «Dann komm erst mal bei dich», sagte sie.
«Zu dir!», sagte Marthaler. «Es heißt: Komm erst mal zu dir.»
«Jawohl, du Schlauwisser.»
«Besserwisser?»
«Nein, das meine ich nicht. Ich glaube, das Wort heißt Schlaumüller.»
«Ach so, nein, du meinst: Schlaumeier.»
Sie lachte. «Egal, Hauptsache, du gibst mir endlich Kuss.»
«Ja», sagte er und nahm ihr Gesicht in beide Hände. «Ja,das wird das Beste sein. Du bist das Beste, was mir gerade passieren konnte.» Dann küsste er sie zaghaft auf den Mund.
«Hast du schon vergessen?», fragte sie, als er ihr Wein einschenkte.
«Was soll ich vergessen haben?»
«Dass ich Baby bekomme. Ich darf nicht Wein trinken.»
«Entschuldige… ich…Aber wie sollte ich das vergessen haben. Es ist das Schönste, was mir seit langem widerfahren ist. Und wann werden wir…?»
«Im Januar.» Dann sah sie ihn misstrauisch an. «Wirklich? Freust du dich wirklich?»
«Was soll das, Tereza?
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