Partitur des Todes
Wieso sollte ich mich nicht darüber freuen? Ich kann mich nicht erinnern, je so glücklich gewesen zu sein.Auch wenn sich manches ändern wird.»
«Aber du hast so Sachen gesagt… über die Kinder…»
«Wovon redest du?»
«An dem Morgen, als ich dir sagen wollte, hast du so geschimpft auf diese Benni, die dir die Münze gestohlen hat. Du hast ihn eine Miststück genannt und gesagt, wie sehr du kleine Blagen hasst.»
Marthaler schaute sie sprachlos an. Langsam begann er zu begreifen.
«Und deswegen hast du geweint? Deshalb bist du weggefahren?»
Sie senkte den Kopf, um seinemBlick auszuweichen.
«Tereza, das ist nicht dein Ernst. Ich war wütend auf den Jungen. Ich hatte schlecht geschlafen. Dann hat Sven mich rausgeklingelt. Und deshalb nimmst du an, ich würde mich nicht freuen?»
Noch immer schaute sie vor sich auf den Tisch. «Ja.Aber es war noch anderes…»
Sofort stieg neue Unruhe in ihmauf. Er wartete, dass sie weitersprach, aber seine Geduld reichte nicht aus. «Was noch? Was war sonst noch?»
«Ich musste denken. Über mich und über dich. Und über das, was ist, wenn wir Kind haben.»
«Was gibt es da nachzudenken? Ich verstehe dich nicht.»
«Ich wusste nicht mehr, ob es richtig ist, wenn ich ein Kind habe mit einen Polizist, der so…»
«Der so…was, Tereza? Rede!»
«Der so in sich ist, wenn er arbeitet.»
Marthaler dachte nach. Er wusste sofort, was sie meinte.Es war dasselbe, was sieihm schon öfter vorgeworfen hatte. Dass er bei jedem neuen Fall alles um sich herum vergaß, dass er sich vergrub in seineArbeit und unaufmerksam wurde, für alles, was nichts damit zu tun hatte.
«Und deshalb weißt du nicht, ob du mit mir ein Kind haben willst?»
Sie wiegte den Kopf. «Mit dir schon, aber ich weiß nicht, ob mit einen Polizist.»
Marthaler merkte, wie ernst es ihr war. Er wusste, dass es nicht ausreichen würde, ihr Besserung zu versprechen, dass er sie nicht einfach beschwichtigen durfte. Zu oft hatte er das bereits getan, als dass sie daran noch glauben würde.
«Was sollen wir machen? Ich kann nichts anderes. Es ist mein Beruf. Es ist zu spät für mich, etwas anderes zu lernen.»
«Ich weiß nicht», sagte Tereza. «Ich liebe dich, aber ich weiß nicht Lösung. Und das macht mich traurig.»
«Ich mache dir einen Vorschlag.Ich spreche mit unserer neuen Chefin, und ich spreche mit Eissler. Wir werden gemeinsam darüber nachdenken, was sichmachen lässt. Es wird sich eine Lösung finden. Vielleicht nicht sofort, aber bald.»
«Ja», sagte Tereza. «Und so lange schweigen wir davon. Okay?»
«Okay! Trotzdem möchte auch ich noch etwas sagen. Du hast mit Carola und Elena gesprochen, nicht wahr?Auch Sabato wusste, dass wir ein Baby bekommen, bevor du es mir gesagt hast… Sie haben Bemerkungen gemacht, die ich erst verstehen konnte, als du längst in Prag warst und wir telefoniert haben.»
Tereza kam um den Tisch herumund setzte sich auf seinen Schoß. Es war ihr anzusehen, dass sie ein schlechtes Gewissen hatte. «Und dafür möchte ich mich entschuldigen.»
«Ja», sagte er. «Ich kam mir vor wie ein Idiot. Weißt du, wie ich dagestanden habe?»
Sie zog die Stirn in Falten und überlegte. Dann lachte sie: «Du meinst… Wie Schaf in Regen?»
«Ja», sagte er. «Genau so.»
Zwei
Wie an jedem Schultag hatte sich die vierzehnjährige Jadwiga Nowak auch am Montag, dem 6.Juni 2005, den Wecker auf 6.15Uhr gestellt.
Sie war gerne vor dem Rest der Familie wach, so hatte sie ausreichend Zeit, noch ein wenig Musik zu hören, ihre Tagebucheinträge zu schreiben oder für den Unterricht zu lernen. Sie besuchte die neunte Klasse der St.-Lioba-Schule in Bad Nauheim, eines katholischen Gymnasiums, das in dem Ruf stand, seinen Zöglingen mehr Fleiß und Engagement abzuverlangen als die meisten anderen Schulen der Umgebung. Heute Morgen würde Jadwiga in der ersten Stunde gemeinsam mit zwei Freundinnen aus ihrer Klasse ein Referat im Deutschunterricht halten müssen, weshalb sie nun noch einmal die Stichpunkte durchging, die sie für ihren Vortrag notiert hatte.
Sie wohnte mit ihren Eltern und Geschwistern im Kellergeschoss eines Zweifamilienhauses in dem kleinen, zu Butzbach gehörendenDorf Fauerbach vor der Höhe. Ihre Eltern waren Anfang der neunziger Jahre zweimal als Erntehelfer aus Polen auf die Erdbeer- und Spargelfelder der Wetterau gekommen und hatten schließlich den Mut gefasst, ganz nach Deutschland und in diese Gegend überzusiedeln. Dass ihre älteste Tochter sich
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