Partitur des Todes
gemacht. Jetzt brachte er auf einem großen Tablett Orangensaft, Wurst und Käse.
«Ist dein Frühstück jeden Morgen so üppig?», fragte Marthaler.
«Jedenfalls, wenn ich Zeit habe. Und eigentlich habe ich heute Zeit.»
«Carlos, ich hab’s kapiert. Und wenn du es schaffst, gleichzeitig zu kauen und zu denken, wird es kein Problem geben.»
«Dann ist’s gut», sagte Sabato und schaufelte sich eine Portion Rührei auf eines der fettigen Maisbrötchen. «Machen wir es am besten so: Du redest, ich esse.Also, sag an! Was gibt’s?»
«Ich suche immer noch nach dem Schlüssel für unseren Fall. Noch immer ist mir unklar, welches Motiv hinter den Morden steckt. Vorgestern war ich bei dir im Labor. Erinnerst du dich noch, was du zu mir gesagt hast? Du meintest, dass hinter all dem etwas Größeres steckte. Etwas, das wir übersehen haben. Gestern kam Charlotte von Wangenheimzu mir und hat fast dieselben Worte gebraucht. Sie hat mich gebeten, darüber nachzudenken, ob der Fall etwas mitAuschwitz zu tun haben könnte. Du weißt, dass dieses Wort auf dem Umschlag mit der Partitur stand…»
Sabatowedelte mit der Hand zum Zeichen, dass ihm das bekannt sei und Marthaler fortfahren solle.
«Also: Von den Franzosen wissen wir, dass Valerie Rochard offensichtlich das Original der Partitur mit nach Frankfurt genommen hat. Sie hat imHotel Nizza eingecheckt, hat ihre Tasche aufs Zimmer gebracht… Verdammt, Carlos, was ist eigentlich mit der Tasche? Hast du sie untersucht…?»
«Nichts ist mit der Tasche», sagte Sabato, immer noch kauend und schon den nächsten Bissen zum Mund führend. «Kleidung, Wäsche, ein Necessaire, Kosmetik, Frauensachen. Kein Notizbuch, keine Unterlagen, nichts, was uns irgendeine Erkenntnis bringen würde.Also, mach weiter…»
«Vom Hotel aus ist sie sofort zu Sultans Imbiss gefahren und hat sich dort mit Morlang getroffen. Dann sind die Morde geschehen, und die Journalistin wurde entführt. Aber warum? Was ergibt das für einen Sinn? Sie hatte die Partitur bei sich. Wer scharf darauf war, hätte sie sich einfach nehmen können.Auf einen Mord mehr oder weniger wäre es dem Tätersicher nicht angekommen. Warum musste sie entführt werden?»
Marthaler goss sich eine neue Tasse Kaffee ein, nahm einen Schluck Orangensaftund knabberte an einem trockenen Brötchen.
«Und was hat das mitAuschwitz zu tun?», fragte Sabato, während er sich mit dem Handrücken über den Mund wischte.
«Gut»,sagte Marthaler, «gehen wir es mal so herum an: Ein jüdisches Ehepaar wird von den Nazis aus Frankfurt deportiert. Vorher können die beiden ihren Sohn in Sicherheit bringen. Beide Eltern kommen inAuschwitz ums Leben. Ein überlebender Mithäftling des Vaters kann jedoch diese Partitur nach Frankreich bringen. Weil aber niemand weiß, wo sich der Sohn aufhält, schlummert der Umschlag auf einem kleinen Landschloss in der Nähe von Paris, bis er über sechzig Jahre später endlich seinem eigentlichen Empfänger übergeben werden kann. Damit sind wir wieder an demselben Punkt: Der Umschlag taucht auf; die Morde geschehen; Valerie Rochard verschwindet.»
Sabatohatte aufgehört zu kauen. Er saß auf seinem Stuhl und starrte in Richtung Westen, wo man am Horizont die Höhenzüge des Taunus sehen konnte. Es dauerte lange, bis er etwas sagte.
«Kannst du deine letzte Aufzählung nochmal wiederholen», bat er Marthaler.
«Ich habe gesagt, dass wir immer an denselben Punkt gelangen, egal, wie wir die Geschichte anfangen: DerUmschlag taucht auf, dann passieren die Morde auf dem Boot, und die Journalistin verschwindet.»
Wieder verfiel Sabato in einen dämmerähnlichen Zustand. Kurz hatte Marthaler sogar den Eindruck, der Kriminaltechniker sei eingeschlafen.
«Was ist mit dir, Carlos?»
Sabato hob die Hand: «Lass mich, verdammt. Ich versuche nachzudenken. Wie soll ich einen klaren Gedanken fassen, wenn du ständig dazwischenquatschst? Irgendwas stimmt nämlich nicht bei dem, was du sagst. Irgendwas kommt mir komisch vor.»
Marthaler stand auf und ging ein paar Meter weit auf die Wiese zwischen den Obstbäumen.An den Grashalmen hing noch der Frühtau. Nach kurzer Zeit spürte der Hauptkommissar, wie die Feuchtigkeit das Leder seiner Schuhe durchdrang.
«Ich glaub, ich hab’s», sagte Sabato plötzlich und schaute mit selbstzufriedener Miene in Marthalers Richtung.
«Also los, dann rede. Was hast du?»
«Die Morde sind nicht geschehen, weil der Umschlag aus Auschwitz aufgetaucht ist. Sie sind geschehen, weil
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