Partitur des Todes
Treppenabsatz zum zweiten Stock blieb er stehen. Er hatte ein Geräusch auf dem Gang gehört. Er bemerkte eine Frau im Kittel, die ihren Reinigungswagen vor sich herschob.
Er wollte sich wieder zurückziehen, aber es war bereits zu spät. Die Frau hatte ihn ebenfalls gesehen. Marthaler lief an ihr vorbei und las dabei die Nummern auf den Zimmertüren.Als er die Fünfundzwanzig gefunden hatte, steckte er den Schlüssel ins Schloss. Er wandte sich noch einmal um und sah, dass die Frau ihn beobachtete.
Er nickte ihr zu. «Please do not disturb!»
Die Frau nickte ebenfalls.
Er ging hinein und schloss von innen ab. Dann schaltete er sein Handy aus.
Das Zimmer schien nicht bewohnt zu sein. Es war klein, aber freundlich eingerichtet. Den Boden bedeckten helle Holzdielen. Die hohen Fenster wurden von langen, weißen Vorhängen verdeckt. Es gab ein breites Einzelbett, einen Wandschrank, einen Stuhl, ein rotes Zweisitzersofa und an der gegenüberliegenden Wand ein schwarzes Tischchen mit einem Fernseher und einer Schreibtischlampe. In einem Extraraum waren Dusche und WC untergebracht.
Viele Möglichkeiten, etwas zu verstecken, gab es nicht.
Marthaler hob die Matratze an und fuhr mit der Hand darunter entlang. Er rückte das Bett ein Stück von der Wand und schaute dahinter. Er öffnete den leeren Schrank. Er lief das Zimmer einmal längs und einmal quer ab, um zu prüfen, ob eine der Dielen lockerwar. Er legte sich rücklings auf den Boden, schob sich unter den Tisch und rückte so nah wie möglich mit dem Kopf an die Wand, um zu sehen, ob jemand etwas hinter dem Heizkörper versteckt hatte.
Nichts. Hinter den Sofakissen nichts, auf der Fensterbank nichts und nichts im Spülkasten der Toilette.
Marthaler ging zurück zur Zimmertür und tat, als würde er den Raum gerade erst betreten.
Gut, dachte er, ich komme aus Paris. Ich habe eine Reisetasche dabei. Was mache ich damit? Ich stelle sie erst einmal aufs Bett, um sie später auszupacken. Ich bin in Eile, weil ich gleich eine Verabredung habe. Mein Taxi wartet unten auf der Straße. Den Zimmerschlüssel habe ich noch in der Hand. Ich habe einen alten Umschlag dabei, den ich nicht mitnehmen will. Ich will ihn hier im Zimmer aufbewahren, mag ihn aber auch nicht offen herumliegen lassen.
Marthaler legte sich aufs Bett und überlegte. Dann fiel ihm etwas auf.
Über dem Schrank sah es aus, als würde die Mauer um fünfzehn Zentimeter vorspringen. Weil man dort dieselbe Tapete wie auf derWand angebracht hatte, hatte er es nicht sofort gesehen. Er zog den Stuhl heran und stieg auf die Sitzfläche. Dann sah er die beiden kleinen Knopfgriffe und öffnete die Klappe. In dem Fach, das etwa dreißig Zentimeter hoch war und sich über die gesamte Breite des Schrankes erstreckte, waren ein paar Kleiderbügel und ein Heizkissen untergebracht. Marthaler schob seine Hand in das Fach und spürte fast augenblicklich an den Fingerspitzen einen Widerstand.
«Na also», sagte er leise, «da bist du ja.»
Als er den Umschlag hervorzog, kamen ihm dicke Staubflocken entgegen. Er musste niesen.
Dann hörte er, wie sich auf dem Gang Stimmen näherten. Er sprang vom Stuhl, verstaute die Beute unter seinem Hemd und knöpfte das Jackett zu.
Im nächsten Moment wurde an die Tür geklopft. Jemand rüttelte am Türgriff.
Obwohl er damit hatte rechnen müssen, überrascht zu werden, hatte er sich nicht überlegt, was er in einem solchen Fall tun würde. Er beschloss, sich still zu verhalten und abzuwarten. Er hielt es für unwahrscheinlich, dass man sofort die Tür aufbrechen würde.
Er hörte, wie auf dem Gang gesprochen wurde. Er nahm an, dass es die Putzfrau und die Rezeptionistin waren.Als er die Worte «keine Zeit», «Schlüsseldienst» und «Schlosser» hörte, lächelte er.
Die beiden Frauen entfernten sich.Als ihre Schritte verklungen waren, wartete Marthaler noch eine Minute. Dann trat er hinausauf den Flur. Er suchte nach den Zeichen, die auf den Notausgang hinwiesen, und folgte ihnen.
Den Zimmerschlüssel hatte er von innen stecken lassen.
Vier
Valerie horchte auf.Aus der Ferne hörte sie ein leises Geräusch, das langsam lauter wurde. Es waren Schritte, die sich näherten. Zum ersten Mal, seit sie hier gefangen war, hörte sie ein Geräusch, das nicht von ihr selbst verursacht wurde.
Sie hatte das Einzige getan, was sie tun konnte. Sie hatteauf ihrer Matratze gelegen und nachgedacht.Aber ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Es waren immer dieselben Fragen, die sie sich
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