Partitur des Todes
Jahrhunderts.
«Nehmen Sie Platz», sagte der Doktor. «Haben Sie einen Wunsch? Sie müssen hungrig sein.»
Valeriesetzte sich auf den Stuhlvor dem Schreibtisch. «Danke, ja. Ich wüsste gern, welcher Tag heute ist. Ist esAbend oder Morgen? Ist es hell draußen oder dunkel? Wo bin ich überhaupt? Was ist das für ein Ort hier? Ich würde gerne ein Bad nehmen. Oder wenigstens eine Dusche. Und ich müsste dringend mal telefonieren.»
Ohne eine ihrer Fragen zu beantworten, verließ der alte Mann den Raum.
Keine Minute später kam er zurück, stellte ein Glas Wasser und einen Teller mit dunklem Brot, Käse und einer großen Gewürzgurke vor ihr auf den Schreibtisch.Als sie die vorbereitete Mahlzeit sah, merkte sie, wie groß ihr Hunger tatsächlich war. Der Doktor setzte sich ihr gegenüber und sah schweigend zu, wie sie aß. Erst jetzt hatte sie Gelegenheit, sich den Mann anzuschauen, der ihren Blick nicht suchte, ihm aber auch nicht auswich.
Im Licht des kleinen Kronleuchters erkannte sie, dass er noch älter war, als sie unten in der Dunkelheit des Bunkers vermutet hatte. Sie schätzte ihn auf Mitte, vielleicht sogar Ende achtzig. Er hatte ein feingeschnittenes Gesicht mit einer markanten Nase. Das weiße Haar war sorgfältig frisiert, vorne lag es als kurzer Pony auf der hohen Stirn. Er war schmal, ohne schwächlich zu wirken. Seine schlanken Hände mit den langen Fingern hatten ruhig gefaltet auf der fast leeren Platte des Schreibtischs gelegen, bis er mit der Rechten nach einem dünnen, goldfarbenen Federhalter griff, den er nun unentwegt zwischen Daumen und Zeigefinger hin- und herrollte.
Er wartete, bis sie den letzten Bissen in den Mund gesteckt hatte, dann begann er fast augenblicklich zu sprechen.
«Ich habe Sie im Fernsehen gesehen», sagte er.
«Ja, ich bin Journalistin. Sie meinen wahrscheinlich das Gespräch, das ich mit Monsieur Hofmann geführt habe. Es ist vor ein paar Tagen…»
«Nein», sagte der Doktor. Er hatte kurz die Lider niedergeschlagen und schüttelte den Kopf. Um seine Lippen spielte ein fast mitleidiges Lächeln. «Nein, lassen Sie das! Sprechen Sie bitte nicht…» Bevor er fortfuhr, machte er eine kurze Pause, als wolle er abwarten, ob Valerie seinerAufforderung zu schweigen auch wirklich Folge leisten würde. «Bedauerlicherweise konnte ich mich nicht früher um Sie kümmern. Ich bin momentan viel auf Reisen, sodass Ihnen möglicherweiseUngelegenheiten widerfahren sind.»
Fast hätte Valerie lachen müssen. Die gewählteAusdrucksweise des Mannes stand in geradezu absurdem Kontrast zu dem, was man ihr angetan hatte.
«Wahrscheinlich wissen Sie nicht, was geschehen ist», sagte sie. «Ich hatte eine Verabredung auf einem Boot, auf einem schwimmenden Restaurant, als plötzlich…»
Sein Ton war um einen winzigen Grad schärfer geworden, als er sie jetzt aufs Neue unterbrach. «Hören Sie, ich weiß alles. Und ich möchte Sie nochmals dringend bitten, nicht ungefragt…»
Diesmal war es Valerie, die das Gespräch an sich brachte.«Ich wüsste gerne, was das alles zu bedeuten hat», sagte sie. «Warumbin ich hier, Herr… Doktor…? Warum hat man mich eingesperrt? Ich würde jetzt wirklich gerne telefonieren. Ich habe Termine. Ich muss meinen Redakteur benachrichtigen. Mein Handy ist mir offensichtlich abgenommen worden.»
Der alte Mann wartete.Auch nachdem Valerie längst geendet hatte, wartete er noch eine ganze Weile, bis er das Wort wieder ergriff.
Erst jetzt, als sie das regelmäßige Ticken hörte, bemerkte Valerie die große Wanduhr, die hinter der Tür stand und die sie beim Hereinkommen übersehen hatte.
DerAlte hatte dieAugen geschlossen. Sie sah, wie seine Kieferknochen sich bewegten. Über seinem linkenAuge zuckte ein Nerv.
«Das alles ist egal», sagte er schließlich leise. «Leider kann man dieses Wort nicht steigern.Aber alles, was Sie sagen, ist unendlich egal.»
Wieder entstand eine Pause.
«Es gibt nur eine Sache, die nicht egal ist», fuhr er fort. «Ich brauche etwas, das sich in Ihrem Besitz befindet.»
Nun schien er auf eine Reaktion von Valerie zu warten. Ihr war klar, wovon er redete. Es konnte sich nur umdie Partitur handeln. Er wollte die Noten. Die verdammte Partitur war die Ursache für alles, was zuerst auf dem Boot und was danach mit ihr geschehen war. Es gab keine andere Lösung.Auch wenn sie die Zusammenhänge nicht begriff, auch wenn sie nicht verstand, wie eine alte Handschrift all diese Ereignisse hatte auslösen können.
«Ich weiß
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