Partitur des Todes
nicht, wovon Sie sprechen», sagte sie.
Sie wollte Zeit gewinnen. Sie musste herausfinden, was sie dem alten Mann gegenüber sagen durfte. Dass er ihr nicht helfen wollte,dass er womöglich ihr Feind war, hatte sie endlich begriffen.Aber welches Wort war richtig, welches falsch? Welche Information würde ihr Leben retten,welche wäre ihr Todesurteil? Er wollte etwas, das sich in ihrem Besitz befand.Aber wenn sie es ihm gab, würde er keinen Grund mehr haben, sie weiterleben zu lassen. Für einen Augenblick dachte sie daran, einfach wegzulaufen.Aber sie merkte, dass sie keine Kraft hatte. Sie fühlte sich wie gelähmt.
«Ich verstehe nicht, was Sie wollen», wiederholte sie.
«Bitte!», flüsterte er. «Lassen Sie das.» Und sah ihr lächelnd in die Augen.
«Wenn Sie die Noten meinen», sagte Valerie, «dann können Sie die Aufführungsrechte kaufen. Sind Sie Musikverleger? Ich bin nach Frankfurt gekommen, um Nachforschungen über die Geschichte dieser Operette anzustellen, aber auch, um die Partitur imAuftrag von Monsieur Hofmann anzubieten…»
Der Mann schob Valeries Teller zur Seite. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und lächelte sie an. «Sie sind eine schöne Frau», sagte er. «Legen Sie Ihre Hände auf den Tisch!»
Valerie sah ihn fragend an.
«Tun Sie es!»
Valerie streckte ihre Arme aus und legte beide Handflächen nebeneinander auf den leeren Schreibtisch. Die Spitzen ihrer Daumen berührten sich.
DerAlte beugte sich ein wenig nach vorne. «Ja», sagte er. «Sehr schön.»
In seiner rechten Hand hielt er noch immer den goldfarbenen Federhalter. Mit der Kuppe seines linken Mittelfingers fuhr er über Valeries Fingernägel.Als sie zurückzuckte, schüttelte er den Kopf. «Nein», sagte er, «lassen Sie Ihre Hände einfach so liegen!»
Er beugte sich noch ein wenig weiter in Valeries Richtung: «Ich interessiere mich nicht für dieAufführungsrechte.»
«Geht es Ihnen um die Handschrift? Sind SieAutographensammler? Ich habe eine Kopie in meiner Reisetasche.Aber die befindet sich in meinem Hotelzimmer in Frankfurt. Wir könnten sie gemeinsam holen…»
«Ich brauche das Original.»
«Ja, natürlich.Aber das liegt in Paris. Es gehört dem alten Juden, dessen Vater…»
Das Gesicht des Doktors kam noch näher. «Nein. Reden Sie keinen Unsinn! Sie haben versprochen, das Original mitzubringen.»
Endlich verstand sie. Der Doktor war einer jener Leute gewesen, die sich in der Redaktion gemeldet und ihr Interesse an der wiederentdeckten Operette Jacques Offenbachs bekundet hatten. Und jetzt erinnerte sie sich auch, dass einer derAnrufer darauf bestanden hatte, dass man ihm das Original vorlegte.
«Wir hatten einen Termin, nichtwahr?», sagte sie. «Wir waren ebenfalls auf dem Boot verabredet. Wir haben noch am Nachmittag telefoniert. Ist es so?»
Statt zu antworten, funkelte derAlte sie an. «Geben Sie mir das Original!»
«Ich weiß, ich habe Ihnen zugesichert, die Handschrift mitzubringen.Aber Monsieur Hofmann wollte mir nur eine Kopie mitgeben,es war ihm zu riskant…Auch versicherungstechnisch wäre es…»
Diesmal unterbrach sie sich selbst. Er wusste, dass sie log. Und sie hatte gemerkt, dass er es wusste.
Seine Nasenflügel weiteten sich. Er atmete ein. Seine Miene zeigte Enttäuschung. Fast schien er ein wenig angewidert zu sein von der jungen Frau, die ihm gegenübersaß und nicht die Wahrheit sagte. Die seine Intelligenz unterschätzte und seine Geduld strapazierte. Die nicht wusste, dass er immer alles bekommen hatte, was er haben wollte. Die nicht wusste, dass moralische Bedenken für ihn keine Gültigkeit hatten. Die überhaupt nichts über ihn wusste.
«Ich habe nicht viel Zeit, mich um Sie zu kümmern», sagte er mit einem heiseren Krächzen. «Ich habe überhaupt nicht mehr viel Zeit.»
Und dann machte Valerie einen wirklichen Fehler. Sie log einfach weiter. Sie erzählte ihm, wie leid es ihr tue, dass sie ihr Versprechen nicht habe halten können, dass er aber jederzeit nach Paris kommen und dort das Original in Augenschein nehmen könne, dass man es andernfalls gewiss auch rasch hierherbringen lassen könne…
Sie merkte, dass derAlte ihr nicht mehr zuhörte.
«Nein», sagte er, und seine Stimme war nur noch ein Hauch. «Nein!»
Er hob seine rechte Hand, die jetzt zur Faust geballt war, mit der er aber noch immer den goldfarbenen Federhalter umfasst hielt. Mit aller verbliebenen Kraft seines alten Körpers ließ er die Faust auf Valeries Linke heruntersausen. Die
Weitere Kostenlose Bücher