Partitur des Todes
die Aufzeichnungen entschlüsselt, aber es wäre gar nicht nötig gewesen.Arthur Hofmann hat uns die Lösung seines Zeichenrätsels gleich mitgeliefert.» «Aber wieso? Dann hätten wir sie doch heute Morgen finden müssen.» «Als du weg warst, bin ich auf die Idee gekommen, mir den Briefumschlag nochmal genauer anzuschauen. Es war, wie ich mir gedacht habe:Arthur Hofmann hat diesen Umschlag wahrscheinlich selbst hergestellt. Er hat zwei Schichten dickes Papier übereinandergelegt und sie an den Rändern verklebt. Es war ein Umschlag mit doppeltem Boden.
Zwischen den beiden Schichten hatte er dieAnleitung versteckt, nach der seine Texte zu entschlüsseln sind.» «Und? Hast du die Aufzeichnungen gelesen?» Sabato nickte. Dann reichte er Marthaler die schwarze Mappe. «Du musst dir das jetzt nicht alles antun.Aber von den wichtigsten Stellen habe ich dir Kopien gemacht.» Marthaler hatte die Mappe bereits geöffnet, als Sabato noch einmal das Wort ergriff. «Robert, ich will dich warnen. Was du gleich zu lesen bekommst, ist schwer zu verdauen.Aber es nützt nichts. Du musst das jetzt hinter dich bringen. Und wenn du fertig bist, müssen wir überlegen, was zu tun ist. Obenauf liegt ein Brief, den Arthur Hofmann an seinen Sohn geschrieben hat. Den letzten Absatz hat er Ende Januar1945 hinzugefügt.Also, du bist gewarnt…» Marthaler seufzte. Dann begann er mit seiner Lektüre.
Mein lieber Georg, es gibt eine Zeile aus einem alten Lied, die mir hier oft durch den Kopf geht und die mir Trost spendet: «Ewig kann’s nicht Winter sein.» Und auch dies hier wird irgendwann einmal zu Ende gehen. Ob ich dann noch leben werde, weiß ich nicht. Von Mutter habe ich keine Nachricht. Man hat uns sofort bei unserer Ankunft getrennt. Sie war schwach nach der Fahrt und hatte Fieber. Die Entbehrungen im Ghetto waren ihrer Gesundheit nicht eben zuträglich. Man sagte mir, sie komme in den Krankenbau, aber ich hoffe, daß sie so klug war, ihre Krankheit zu verbergen.
Ob Dich unsere Post aus Lodz wohl je erreicht hat? Bis heute quält mich, daß wir Dich belogen haben, als wir uns voneinander trennten. Mama und ich haben lange darüber gesprochen, aber wir hielten es für besser, wenn Du die Wahrheit nicht weißt, solange Du nicht in Sicherheit bist. Es ist alles noch schlimmer gekommen, als wir damals ahnten. Mein lieber Georg, ich hoffe, es geht Dir gut, da, wo Du jetzt bist. Es würde mich freuen, wenn Du ab und zu noch an uns denkst. Leb wohl, mein Sohn, Dein Dich liebender Vater Arthur Hofmann PS: Daß ich Dir obige Zeilen schrieb, ist ein Vierteljahr her. Das Lager wird jetzt geräumt, und ich lebe noch immer, was mir wie ein Wunder vorkommt. Die allermeisten haben das Lager in Richtung Westen verlassen. Noch geht alles drunter und drüber. Viele sind in den letzten Tagen noch gestorben. Denn nur die ganz Kranken und Schwachen sind noch da. Ich werde mich, wie ich es auch bislang getan habe, um sie kümmern, bis hier geregelte Verhältnisse einkehren. Mit dem Eintreffen der Roten Armee ist in den nächsten Tagen zu rechnen. Also hoffe ich, daß wir uns bald in die Arme schließen können.
Marthaler sah Sabato schweigend an. «Was jetzt kommt, sind Arthur HofmannsAufzeichnungen aus demAlltag des Lagers. Es ist eineArt Tagebuch.»
Heute ist Dr.Niehoff ausgesprochen guter Dinge. Er begrüßt mich sogar, als er hereinkommt, und bittet mich, ihm Gesellschaft zu leisten. Er setzt sich in seinen Sessel. Ich nehme ihm gegenüber auf einem Stuhl Platz. Er bietet mir eine Zigarre an. Dann trinken wir Cognac. Er erzählt mir, daß er vorhin einen Zwerg seziert habe, dessen Leichnam nun abgekocht werde. Das Skelett wolle er ins Anthropologische Museum nach Berlin schicken. Auf die Begleitpapiere werde ich den Stempel drücken müssen: «Dringende kriegswichtige Sendung». Dr.Niehoff schenkt unsere Gläser noch einmal voll. Ich merke, daß er zu viel getrunken hat. Ich fürchte, daß er dadurch vertrauensselig wird, was er morgen bereuen könnte. Nun will er, |400| daß wir gemeinsam das Lied von Klein-Zack singen. Irgendwann wird es mir zum Verhängnis werden, daß wir einander unsere Liebe zu Offenbachs Musik gestanden haben. Für viele hier wäre der Tod eine Erlösung. Sie sehnen ihn herbei. Sie sind am Ende ihrer Kräfte angelangt. Aber oft sind sie bereits zu schwach, sich das Leben zu nehmen, oder haben nicht die Mittel dazu. Heute hat es wieder eine Frau geschafft. Sie ist in den elektrischen Zaun gelaufen. Ihre Leiche wurde an
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