Partitur des Todes
weiter.»
«Ja», sagte Marthaler, der mit einem Mal spürte, dass ihm fast übel war vor Ekel und Erschöpfung. «Ja, morgen sehen wir weiter.»
Sieben
Monsieur Hofmann schlug die Augen auf und brauchte einen Moment, bis er wusste, wo er sich befand. Durch die Gardinen konnte er erkennen, dass es draußen bereits hell war. Dann schaute er auf den Wecker, der neben ihm auf dem Nachttisch stand. Es war 7.56Uhr; er hatte so lange geschlafen wie seit Monaten nicht mehr. Er lag im Bettdes kleinen Hotels in derLiebigstraße im Frankfurter Westend. Heute war Dienstag, der 7.Juni 2005.Neben sich hörte er den gleichmäßigenAtem von Mademoiselle Blanche.
Gestern Morgen hatte Monsieur Hofmann beim Frühstück die Frankfurter Zeitungen gelesen. Es war schon wieder ein Mord geschehen, und in allen Blättern wurde groß darüber berichtet. Von Valerie Rochard allerdings gab es keinerlei Neuigkeiten. Sie war noch immer verschwunden. Schnell war ihm klar geworden, dass er nichts für sie tun konnte. Ob er sich hier oder in Paris aufhielt, er konnte ihr nicht helfen. Trotzdem hatte er seinen Entschluss, nach Frankfurt zu fahren, keine Minute bereut.
Dass ihm die Stadt so gut gefallen würde, hatte er nicht erwartet. Und auch Mademoiselle Blanche äußerte sich zufrieden, ihrenGeliebten begleitet zu haben.Nach dem Frühstück waren sie zu Fuß in die Innenstadt gelaufen. Es gab nur wenige Orte, die Monsieur Hofmann wiedererkannte. Viele Häuser und Straßen waren im Krieg zerstört worden, viele neue hatte man an ihre Stelle gebaut. Erstaunt war er allerdings darüber, wie klein die Stadt war, denn aus seiner Kindheit hatte er sie als einen Ort von unendlicher Ausdehnung in Erinnerung behalten.
Sie hatten den Zoo und den Dom besucht, waren über den Römerberg gelaufen, hatten lange in der Nähe des Eisernen Stegs auf einer der Bänke am Mainufer in der Sonne gesessen, um endlich imCafé Hauptwache eine Kleinigkeit zu essen.Am Nachmittag waren sie ziellos durch die Straßen gebummelt, hatten immer wieder Pausen eingelegt und waren amAbend erschöpft in ihre Hotelbetten gesunken.
Monsieur Hofmann blieb noch eine Weile liegen. Dann stand er leise auf und ging nach nebenan in das kleine Badezimmer.Als er sich geduscht hatte, nahm er frische Unterwäscheund ein neues Oberhemd aus dem Koffer. Er zog den grauenAnzug an, nahm seinen Strohhut, ging zurück ans Bett und gabder immer noch schlafenden Mademoiselle Blanche einen Kuss auf die Wange. Sie räkelte sich kurz, drehte sich auf die andere Seite und schlief weiter.
Wahrscheinlich würde es noch Stunden dauern, bis sie endlich aufwachte. Sie hatte es nie geschafft, ihre Schlafgewohnheiten umzustellen. Obwohl ihre Zeit als Revuetänzerin längst vorüber war, war sie immer ein Nachtmensch geblieben. Und wenn Monsieur Hofmann abends bereits eingeschlafen war, lag sie häufig noch lange neben ihm, um zu lesen. So schien sie es auch gestern gemacht zu haben. Das dicke Buch mit den Erzählungen Maupassants war ihr aus der Hand gerutscht und neben dem Bett zu Boden gefallen.
Er ging in den leeren Frühstücksraum, setzte sich an denselben Tisch, an dem er auch gestern gesessen hatte und bestellte bei der Kellnerin eine Kanne Kaffee und ein Glas Orangensaft. Er ließ sich die Zeitungen bringen, merkte aber, dass er nicht in der Stimmung war, sie zu lesen, und legte sie neben sich auf den freien Stuhl.
Kurz darauf betrat ein weiterer Gast den Raum, der auch gestern mit ihnen gefrühstückt hatte. Monsieur Hofmann begrüßte den Neuankömmling mit einem Nicken, dann machte er sich daran, die Schale seines Frühstückseis aufzuklopfen.
Als die Kellnerin das nächste Mal an seinem Tisch vorbeikam, hielt er sie an.
«Entschuldigen Sie, meine Dame, ich habe eine Frage.»
«Bitte schön, fragen Sie.»
«Vor langer Zeit war ich in dieser Straße zu Hause. Können Sie mir sagen, was mit den Juden geschehen ist, die hier gewohnt haben?»
Die Kellnerin zog die Brauen hoch und sah ihn irritiert an. «Ich verstehe nicht…»
Obwohl sie lächelte, hatte Monsieur Hofmann den Eindruck, sie mit seiner Frage verärgert zu haben.
«Keine Angst, ich weiß, dass Sie zu jung sind, und ich wollte Sie nicht in Bedrängnis bringen. Es ist nur so, dass ich hier niemanden mehr kenne, den ich fragen könnte.»
«Nein», sagte sie, «ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was mit denen geschehen ist.» Monsieur Hofmann hatte den Eindruck, dass sie das Wort «Juden» bewusst vermied. «Aber nicht weit
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