Partitur des Todes
mir vorbei auf einem Handkarren ins Krematorium gebracht.
Trotzdem gibt es auch viele, die sich geschworen haben, das Lager zu überleben, und sei es aus dem einzigen Grund, um der Welt davon erzählen zu können und um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Ohne diese Hoffnung würde auch ich nicht mehr leben. Niehoff ist schlecht gelaunt. Er ist in aller Frühe aufgestanden und hat einen großen Transport aus Ungarn selektiert. Es hat die ganze Zeit geregnet, dabei ging ein starker Wind. Er hat fast alle ins Gas geschickt. Jetzt ärgert er sich, daß er nicht genauer gearbeitet hat. Er fürchtet, daß ihm das eine oder andere wertvolle Material abhandengekommen ist, wie er sagt. Die Zahl von Dr.Niehoffs Probanden ist unermeßlich. Und jeden Tag kommen neue hinzu. Vorhin stand auf dem Gang ein Geschwisterpaar aus Ungarn – beide außergewöhnlich hübsch. Niehoff schreit nach seiner Assistentin, einer jungen polnischen Häftlingsärztin. Er hat vergessen, daß er sie selbst weggeschickt hat. Jetzt ist er wütend, weil er die Arbeit alleine machen muß. Er schickt die Geschwister in zwei nebeneinanderliegende Zimmer. Er zieht die Spritzen mit dem Phenol auf. Zuerst sticht er den Jungen ins Herz, dann seine Schwester. Die Türen zum Gang hat er offengelassen, so daß ich im Vorübergehen alles sehen kann. Nach fünf Minuten ist alles vorbei. Ich weiß nicht, was er mit den Leichen vorhat. Sie sollen seziert werden, solange sie noch warm sind. Er diktiert mir die Häftlingsnummern der beiden, damit ich sie als Abgänge austragen kann. Es wird erzählt, daß der Totenschädel auf seinem Schreibtisch von einem jungen Zigeuner stammt, den Dr.Niehoff nur hat töten lassen, weil der Mann ein so ebenmäßiges Gebiß hatte. Jemand aus dem Sonderkommando berichtet, einmal habe Niehoff einen französischen Matrosen umgebracht, um ihm die Haut abzuziehen. Der Mann hatte auf seiner Brust die Tätowierung eines Segelschiffs. Niehoff hat sie präparieren lassen und dem Lagerkommandanten zum Geburtstag geschenkt. Niehoff hatte mich gebeten, ihn ins Stammlager zu begleiten. Auf der Lagerstraße kommen uns zwei junge S S-Leute entgegen, die einen Mann in Häftlingskleidung abführen. Niehoff fragt, was sie vorhaben. «Der Mann wollte fliehen; er wird erschossen», antwortet einer der Burschen eifrig. Niehoff brüllt die beiden an. «Wird er eben nicht, ihr Idioten.» Dann befiehlt er ihnen, den Mann in eine der unterirdischen Dunkelzellen zu bringen, wo man ihn verhungern lassen soll. Eine Maßnahme, die gar nicht verheimlicht wird, weil man sich von ihr eine abschreckende Wirkung auf andere Fluchtwillige erhofft. Gab es bislang noch einen kleinen Hoffnungsschimmer, so hat sich heute mein Schicksal besiegelt. Niehoff hat mich gebeten, seine Post zu öffnen. Es war ein großer Brief aus dem Lager Sachsenhausen darunter. Ich schnitt ihn auf, und zum Vorschein kam ein neues Ausweispapier mit einem Foto, das Dr.Niehoff zeigt. Allerdings lautet sein angeblicher Name nun Heinrich Schmidt. Er scheint zu merken, daß die tausend Jahre zu Ende gehen, er weiß, daß er Vorsorge treffen muss. Als ich den Ausweis anschaute, stand er plötzlich hinter mir. Er riß mir das gefälschte Papier aus der Hand. Bevor er den Raum verließ, sah er mich lange an. Seiner Miene war nicht abzulesen, was er dachte.
Marthaler hatte seine Lektüre beendet und starrte weiter auf die letzten Zeilen. Dann schloss er die Augen. Nach einer Weile begann er mit den Fingern der rechten Hand auf seine Schreibtischplatte zu trommeln.
«Hast du eine Ahnung, wer dieser Dr.Niehoff war?», fragte er.
«Nein», sagte Sabato. «Ich habe den Namen hier zum ersten Mal gelesen.»
«Hilf mir, Carlos», sagte Marthaler. «Hilf mir, das alles zu verstehen.Arthur Hofmann war Häftling inAuschwitz. Er hat aufgeschrieben, was er dort erlebt hat.Es sind ungeheuerliche Dinge, von denen er berichtet.Aber sie sind lange her. Sechzig Jahre später wird der Umschlag mit den Noten gefunden. Niemand weiß, dass im selben Umschlag dieseAufzeichnungen versteckt sind.Trotzdem geschieht in Frankfurt ein Mord nach dem anderen. Was soll das? Was ergibt das für einen Sinn?»
«Ich weiß es nicht», sagte Sabato. «Aber du kannst dir sicher sein: Es hängt zusammen. Wir werden Hilfe brauchen. Wir werden jemanden zu Rate ziehen müssen, der sich auskennt. Ich werde heute Abend noch ein paar Telefonate führen. Wie du aussiehst, solltest du jetzt lieber nach Hause gehen. Morgen sehen wir dann
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