Partitur des Todes
Stimme zu hören war: «Robert, wo bleibst du denn? Es ist Viertel vor zehn! Ich warte auf dich.»
Marthaler sah den Kriminaltechniker fragend an. «Und…warum… wartest du auf mich?»
«Verflucht, Robert. Das kommt davon, weil du nie auf deinen Schreibtisch schaust. Ich hab dir vor zwei Stunden einen Zettel hingelegt, dass ich einen Termin für uns im Fritz Bauer Institut vereinbart habe. Nun komm, beweg dich endlich!» Sabato, der selten mehr Erregung zeigte als ein Murmeltier im Winterschlaf, war so nervös, dass er mehrmals versuchte, den Haustürschlüssel ins Zündschloss seines alten Volvo zu stecken.
«Carlos, du kannst nicht einfach reinplatzen und mich mitten aus einer Sitzung holen», sagte Marthaler, als er sich in den Beifahrersitz sinken ließ.
«Papperlapapp. Wenn du weißt, worum es geht, wirst du froh sein, dass du dich hast rausholen lassen.»
Schnaufend schlug Sabato das Lenkrad ein und versuchte, aus der Parklücke zu kommen.Als er den hinterihm stehenden Wagen touchierte, fluchte er kurz,kümmerte sich aber nicht weiter darum, sondern fuhr einfach los.
«Streng genommen war das Fahrerflucht», sagte Marthaler.
«Streng genommen kannst du mich mal… anzeigen, wenn du willst.»
«Also los, raus mit der Sprache! Wo fahren wir hin?»
«In die Uni. Ins IG-Farben-Haus.»
Marthaler wartete, dass Sabato mit seinerAntwort fortfuhr, aber es kam nichts mehr.
«Wir fahren auf den Campus, okay. Um… was… zu… tun, Carlos?»
«Gestern Abend hab ich noch mit ein paar Genossen telefoniert…»
Wieder machte Sabato eine Pause, als wolle er das Wort keinesfalls ungehört verklingen lassen.
«Genossen?», fragte Marthaler pflichtschuldig und hoffte, dass der ironische Unterton in seiner Stimme nicht zu überhören war.
«Ja, lach nur, Bourgeois, du lachst nicht mehr lang!», erwiderte Sabato, dessen Laune sich schon deshalb zu bessern schien, weil das Wort bei Marthaler die erhoffte Wirkung nicht verfehlt hatte. «So ist es, wir nennen uns immer noch Genossen.»
«Wer ist wir?», fragte Marthaler.
«Wir alten Dinosaurier, die wir nicht glauben, dass die Welt, in der wir momentan leben, deshalb auch schon die beste aller denkbaren Welten ist.»
«Okay,Carlos. Weiter! Hör auf zu predigen! Komm zur Sache!»
«Gut. Jedenfalls bekam ich den Tipp, mich an einen gewissen Bernd Meissner zu wenden. Der Mann istArchivar im Fritz Bauer Institut, das sich mit der Erforschung des Holocaust beschäftigt. Dass dieses Institut nun ausgerechnet in der alten Zentrale der IG Farben sitzt, ist auch eine Ironie der Geschichte.Du weißt, dass der Konzern aufs Engste mit den Nazis verbunden war und…»
«Carlos! Ein bisschen was weiß sogar ich von deutscher Geschichte…»
«Das ist mir zwar neu, aber freut mich zu hören. Meissner war übrigens sofort wie elektrisiert, als ich ihm erzählt habe, was wir in dem Umschlag entdeckt haben. Ich glaube, er hätte sich am liebsten noch gestern Abend mit uns getroffen. Man sagt von ihm, dass er sich inAuschwitz besser auskennt als in seiner eigenen Wohnung.»
«Ich hoffe, du hast ihm nicht zu viel erzählt», sagte Marthaler.
«Dass ich Kriminaltechniker bin, heißt ja nicht, dass ich auch ein Idiot sein muss», sagte Sabato. «Ich hab ihm von den Aufzeichnungen berichtet und hab ihm gesagt, worum es geht. Namen habe ich nicht genannt.»
«Gut. Wie weit wir ihn einweihen, werden wir gleich sehen.»
Sabatobog in den Campus ein und hielt an dem gelben Container, in dem eine junge Frau saß, die den Parkplatz für die Universitätsbediensteten bewachte. Marthaler stieg aus und zeigte ihr seinen Dienstausweis. Kurz darauf wurde die Schranke geöffnet, Sabato fuhr an Marthaler vorbei und parkte den Wagen im Schatten einer Buche, aus deren Blattwerk schreiend ein Elsternpärchen aufflog.
Als Marthaler kurz stehen blieb, um sich einen Eindruck von dem riesigen Gelände zu verschaffen, das er gerade zum ersten Mal betrat, erteilte Sabato ihm einen Rüffel. «Jetzt leg mal einen Zahn zu, Robert. Bernd Meissner wollte uns um zehn Uhr imCafé Rotunde abholen. Das war vor fünf Minuten…» «Wollen wir sofort hochfahren, oder würden Sie lieber erst eine Kleinigkeit zu sich nehmen?», fragte Bernd Meissner, der von seinem Tisch aufgestanden war, um die beiden Polizisten zu begrüßen.
«Nein, danke», sagte Marthaler.
«Ja, gerne», sagte gleichzeitig Sabato.
Meissner lachte. «Nehmen Sie Platz! Ich hol uns rasch ein bisschen Kaffee und Kuchen.»
Das Café Rotunde
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