Partitur des Todes
Stelle, die ich ihm genannt habe», sagte Bernd Meissner. «Es ist eine Zeugenvernehmung aus demAuschwitz-Prozess vom 19.März 1964.Ich schlage Ihnen einen Tausch vor: Sie zeigen mir jetzt endlich dieAufzeichnungen Arthur Hofmanns, dann gewähre ich Ihnen Einblick in diese Akte, ohne dass Sie sich dafür extra einen Durchsuchungsbefehl besorgen müssen.»
Ungläubig schaute Marthaler den Archivar an.
«Das war ein Scherz, Herr Hauptkommissar», sagte Sabato. «Auch wenn du das mal wieder nicht kapiert hast. Was meinst du, gehen wir auf den Handel ein?»
Marthaler nickte. Dann setzte er sich neben Sabato an den Tisch. Bernd Meissner stand ein paar Meter entfernt von ihnen und blätterte in der Mappe, die Sabato ihm überreicht hatte. Gemeinsam begannen sie zu lesen. Vorsitzender Richter: Sie sagen, Sie haben gesehen, wie Dr.Niehoff einen weiblichen Häftling geschlagen hat?
Zeuge Brandstätter: Ja, mit einer Peitsche.
Vorsitzender Richter: Kennen Sie den Namen der Frau?
Zeuge Brandstätter: Nein.
Vorsitzender Richter: Und Sie haben auch gesehen, wie er andere Häftlinge mit Phenolspritzen getötet hat?
Zeuge Brandstätter: Nein, aber ich weiß es. Ein Häftling, der für Niehoff gearbeitet hat, hat es mir erzählt. Er hat alles aufgeschrieben. So etwas ist oft geschehen. Niehoff hat auch an der Rampe Dienst getan.
Vorsitzender Richter: Wie hieß dieser Häftling? Was hat er aufgeschrieben?
Zeuge Brandstätter: Es war ein Jude aus Frankfurt, Arthur Hofmann. Er hat mir erzählt, daß er heimlich Tagebuch führt. Auf der Rückseite einer alten Partitur hat er seine Aufzeichnungen in Geheimschrift gemacht. Er hat alles festgehalten, was Niehoff getan hat.
Vorsitzender Richter: Haben Sie dieses Tagebuch jemals gesehen?
Zeuge Brandstätter: Nein. Aber er hat alle Häftlinge gebeten, ihm mitzuteilen, was sie gesehen haben. Er hat über alles Buch geführt.
Vorsitzender Richter: Wissen Sie, was aus diesem Arthur Hofmann geworden ist?
Zeuge Brandstätter: Ich weiß nur, daß er bei den Kranken blieb, als das Lager geräumt wurde. Ich habe ihn nie mehr gesehen. Ich habe nichts mehr von ihm gehört.
Vorsitzender Richter: Und wissen Sie, was mit dem Tagebuch geschehen ist?
Zeuge Brandstätter: Er hat es einem anderen Häftling mitgegeben. Einem Franzosen. Ich weiß nicht, wie er hieß. Hofmann hat zu mir gesagt, das Tagebuch ist in Sicherheit. Das war das Letzte, was ich von ihm gehört habe.
Vorsitzender Richter: Wie oft haben Sie Dr.Niehoff im Lager gesehen?
Zeuge Brandstätter: Vielleicht sieben oder acht Mal.
Vorsitzender Richter: Sie wissen, was mit ihm geschehen ist?
Zeuge Brandstätter: Ich weiß, daß man sagt, er sei in Berlin ums Leben gekommen. Aber das stimmt nicht. Ich habe ihn später noch einmal wiedergesehen.
Vorsitzender Richter: Wann war das? Bei welcher Gelegenheit wollen Sie Niehoff gesehen haben?
Zeuge Brandstätter: Das war im August 1958 in Bad Nauheim. Ich war dort zur Kur. Ich habe ihn auf der Straße gesehen. Er war dort mit einer Frau unterwegs.
Vorsitzender Richter: Was haben Sie gemacht, als Sie glaubten, Dr.Niehoff erkannt zu haben?
Zeuge Brandstätter: Ich bin ihm gefolgt, aber ich habe ihn aus den Augen verloren. Dann bin ich zur Polizei gegangen und habe es angezeigt.
Vorsitzender Richter: Wissen Sie, was aus Ihrer Anzeige geworden ist?
Zeuge Brandstätter: Ich habe später einen Brief bekommen. Man schrieb mir, daß die Ermittlungen eingestellt wurden. Man glaubte, ich müsse mich getäuscht haben.
Vorsitzender Richter: Und? Glauben Sie heute ebenfalls, daß Sie sich getäuscht haben?
Zeuge Brandstätter: Man kann sich immer täuschen. Trotzdem glaube ich, daß der Mann, den ich gesehen habe, Dr.Niehoff war.
Vorsitzender Richter: Aber sicher sind Sie sich nicht? Haben Sie ihn später noch einmal gesehen?
Zeuge Brandstätter: Nein.
Vorsitzender Richter: Haben Sie gehört, daß Niehoff von irgendwem sonst noch einmal gesehen wurde?
Zeuge Brandstätter: Nein. «Mein lieber Mann, das ist ein Ding», sagte Carlos Sabato.
Marthaler war aufgestanden. Unruhig lief er in dem engen, fensterlosen Raum zwischen den Regalreihen auf und ab.
«Was denkst du?», fragte Sabato.
Marthaler blieb vor seinem Kollegen stehen und schauteihn lange an. «Ich denke, dass der Zeuge Brandstätter recht hatte. Er hat Dr.Niehoff in Bad Nauheim gesehen. Niehoff ist nicht in Berlin ums Leben gekommen. Er hat im Sommer 1958 gelebt. Und weißt du, was ich außerdem denke: Ich denke, Dr.Horst
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