Partitur des Todes
schien, über das er sich wunderte. «Kommen Sie mit, ich werde Ihnen etwas zeigen.»
Der alte Mann hatte Schwierigkeiten, demArchivar zu folgen, der vor ihm her die breiten Stufen des Treppenhauses hinaufstieg,bis sie im obersten Stockwerk angelangt waren, wo es keine Fenster mehr gab. Sie durchquerten einen langen Flur, an dessen Ende sie an einer Glastür ankamen. Noch einmal mussten sie durch einen dunklen Gang, dann hatten sie eine Tür erreicht, auf der ein Schild befestigt war mit der Aufschrift: «Aktenlager».
Schnaufend wartete Monsieur Hofmann, bis Bernd Meissner den richtigen Schlüssel gefunden und die Tür geöffnet hatte.
Der Raum war mit großen Regalen gefüllt. Dort, wo ein Stück der Wand frei geblieben war, hingen Pläne und Luftaufnahmen des Lagers Auschwitz.
«Wissen Sie etwas über den Auschwitz-Prozess?», fragte derArchivar.
«Ich weiß, dass es einen solchen Prozess gab.»
«Mitteder sechziger Jahre hat dieser Prozess hier in Frankfurt stattgefunden.Angeklagt waren einundzwanzigAngehörige der Lager-SS und ein Häftling.»
«Ein Häftling?»
«Ja, es gab auch Häftlinge, die Morde begangen haben. Befragt wurden über dreihundert Zeugen aus der ganzen Welt. Die hundertdreiundachtzig Verhandlungstage des Prozesses wurden damals auf Tonband aufgenommen. Wir haben die Tonbänder in den letzten Jahren abgeschrieben.» Er zeigte auf eine große Regalwand vollerAktenordner. «Wenn Sie wissen wollen, was in diesem Lager geschehen ist, schauen Sie hier rein. Bedienen Sie sich. Dort ist ein Tisch und ein Stuhl. Und hier ist ein Haustelefon. Rufen Sie mich an, wenn Sie wollen. Dann werde ich in meinem Computernachschauen, ob die Namen Ihrer Eltern irgendwo in den Unterlagen vorkommen. Wenn ich etwas finde, nenne ich Ihnen die Nummer des Ordners und die Seiten, auf denen Sie etwas über das Schicksal Ihrer Eltern erfahren. Und jetzt lasse ich Sie alleine.»
«Ich danke Ihnen, mein Herr», sagte Monsieur Hofmann mit ausdrucksloser Stimme. Mit einem Mal war er nicht mehr sicher, ob er das, was er hier tat, wirklich wollte. Er hatteAngst vor dem, was in diesenAkten stand. Schließlich zog er doch einen der Ordner heraus, schlug ihn irgendwo in der Mitte auf und begann zu lesen.
Nach einer Stunde schaute er zum ersten Mal wieder auf die Uhr. Er hatte das Gefühl, um Jahre gealtert zu sein. Zuletzt hatte er dieAussage eines polnischen Juden namens Simon Gotland gelesen. Der Zeuge berichtete, wie einer der SS-Leute einer jungen Mutter an der Rampe von Birkenau unter Schlägen ihr neugeborenes Baby abgenommen und dann mit dem Kind Fußball gespielt hatte: «Bring mir die Scheiße hierher!», habe der SS-Mann ihm, dem jüdischen Häftling, befohlen. «Als ich ihm das Kind brachte, war es bereits tot. Nachdem ich den Waggon ausgeladen hatte und wieder zu der Frau hinzutrat, war sie auch tot.»
Monsieur Hofmann klappte den Ordner zu, dann wählte er die Nummer des Archivars: «Die Namen meiner Eltern sind Arthur und Johanna Hofmann», sagte er.
Acht
«Bitte, Kerstin!», sagte Sven Liebmann. «Das ist die vierte Zigarette innerhalb einer halben Stunde. Entweder du hörst damit auf, oder du gehst nach draußen, um zu rauchen.»
Kerstin Henschel ging zum Fenster des Besprechungszimmers und öffnete es. Siesah aus, als habe sie kaum geschlafen. Ihre Hautwar grau und dieAugen gerötet. Sie drückte die Zigarette auf der Fensterbank aus und schnippte sie nach draußen. Dann schloss sie das Fenster wieder und setzte sich auf ihren Platz.
Kurz darauf wurde die Tür geöffnet. Kai Döring kam herein und hielt den Zigarettenstummel in die Höhe. «Verdammt, was soll das? Wer von euch wirft mir Kippen an den Kopf?»
Marthaler klopfte mit dem Knöchel seines Zeigefingers auf den Tisch. «Könnt ihrbitte damit aufhören! Wir haben keine Zeit, uns zu streiten. Los, lasst uns endlich anfangen.Auch wenn die Ereignisse sich überschlagen. Wir müssen zusehen, dass wir alle auf denselben Stand kommen. Kai, fang du bitte an. Du wolltest herausfinden, wie der Mörder wissen konnte, dass Eva Helberger nach Haunetal gefahren ist. Warst du beimCity-Express?»
«Allerdings. Und es ist genauso gelaufen, wie wir uns das gedacht haben. Es gibt eine undichte Stelle.Arne Grüter hat ein Formularausgefüllt, auf dem er dieAdresse seines Fahrziels eingetragen hat. Der Typ, der die Dienstwagen der Redakteure einteilt, hat die Information weitergegeben.»
«Aber für diese Information ist doch Geld geflossen? Das heißt,
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