Partitur des Todes
sein… Ich geh dann mal. Ich wünsch dir einen schönen Abend…»
Rainer Thielicke war schon fast an der Tür zum Treppenhaus angelangt, als Marthaler ihn noch einmal zurückrief. «Was hast du gerade gesagt?»
«Dass ich jetzt Feierabend mache und dir…»
«Nein, nein, nein. Du hast gesagt, der Wagen kann nicht gleichzeitig in Passau, Kiel und Wiesenbach sein. Wie kommst du auf Wiesenbach? Kann es sein, dass du Wiesental meinst?»
«Ja», sagte Thielicke, «du hast recht: Wiesental.Aber ich hab nicht mal eineAhnung, wo das Kaff liegt. Von dort hat eine gehbehinderte Frau angerufen. Gehbehindert und geldgierig. Sie hat gesagt, dass sie den Camper in den letzten Tagen mehrmals in Wiesental gesehen hat. Sie ist sich sicher, weil sie nämlich alleAutos kennt, die es in dem Ort gibt. Sie sagt, sie guckt entweder Fernsehen oder schaut aus dem Fenster. Und weil es im Fernsehen nichts Gescheites mehr gibt…»
«Okay, Rainer. Hat sie gesehen, wer den Wagen gefahren hat? Hast du ihre Adresse?»
«Nein,sie wollte, dass ich ihr eine Belohnung verspreche.Als ich ihr sagte, dass ich das nicht darf, hat sie sich geweigert,mir ihren Namen zu geben und hateinfach aufgelegt.»
«Weißt du, ob Sabato noch da ist?», fragte Marthaler.
«Vor fünf Minuten ist er mir im Treppenhaus begegnet. Er hat mich gefragt, ob ich noch was zu essen habe. Hatte ich aber nicht… Ich geh dann jetzt.»
Marthaler nickte. Im Besprechungsraum nahm er die Skizze des Adlerhorsts von der Wand. Er ging in sein Büro, schnallte das Holster mit seiner Dienstpistole um, zog sein Jackett über und verließ das Kommissariat. Dann stieg er hinab in den Keller.
Die Tür zu Sabatos Labor stand offen. Die Schreibtischlampe war eingeschaltet, und seine Tasche stand auf dem Boden, nur er selbst war nirgends zu sehen. Sein Autoschlüssel hing an dem Brett neben der Tür. Marthaler nahm den Schlüssel und überlegte, ob er Sabato eine kurze Nachricht schreiben solle, entschied aber, dass dafür keine Zeit war.
Der alte Volvo stand immer noch dort, wo sie ihn mittags geparkt hatten, als sie vom IG-Farben-Haus zurückgekommen waren. Vor dem Ziegenberger Schloss bog er von der Bundesstraße ab. Links sah er die Reste des ehemaligen, jetzt halbverfallenen Gutshofs, von dem Bernd Meissner erzählt hatte. Langsam fuhr er an den düsteren, langgestreckten Gebäuden vorbei, die von einem hohen Zaun umgeben waren und inzwischen als Depot der Bundeswehr genutzt wurden. Hinter einer Kurve sah er an einem Gittertor das halbverwitterte Schild: «Betreten und fotografieren verboten. Von der Schusswaffe wird Gebrauch gemacht.»
Marthaler folgte der schmalen, einsamen Straße, die sich jetzt durch einen dichten Laubwald schlängelte.
Er schaute in den Rückspiegel.
Niemand war zu sehen.Außer ihm war kein andererAutofahrer unterwegs.
Für einen Moment hatte er den Eindruck, dass er sich verfahren habe, dass ihn sein Weg nirgendwohin führe als in immer noch dichtere Wälder.
Als zwanzig Meter vor ihm ein Reh die Fahrbahn kreuzte, bremste er kurz ab. Er hatte einen Schreck bekommen, jetzt lächelte er. Er fühlte sich versetzt in eineWelt, von der er nicht geglaubt hatte, dass es sie noch gab, jedenfalls nicht hier, kaum zwanzig Autominuten von einer der am dichtesten besiedelten Regionen Europas entfernt.Durch das offene Fenster des alten Volvo hörte er einen Eichelhäher schreien.
Nach zwei Kilometern hatte er Wiesental erreicht. Die wenigen Häuser der kleinen Siedlung klebten an den steilen Hängen einer Lichtung, die von hohen Eichen und Buchen umgeben wurde. Kurz hinter dem Ortsschild steuerte er den Wagen in einen Waldweg, in dem die schweren Forstfahrzeuge tiefe Furchen hinterlassen hatten.
Nach wenigen Metern hielt er an. Er stellte den Motor ab und lauschte.
Außer dem Gezwitscher der Vögel war nichts zu hören. Dann sah er, wie der glitzernde Punkt eines Passagierflugzeugs den Himmellautlos kreuzte.
Er zog den Plan hervor, auf demdie sieben zu einem L angeordneten Häuser des Adlerhorsts eingezeichnet waren. Keines der Gebäude stand mehr. Sie waren gesprengt worden, weil nichts mehr daran erinnern sollte, dass hier die gesamte Führung Nazideutschlands ihre letzten vier Wochen außerhalb Berlins verbracht hatte. Es hatte Mühe gemacht, die mächtigen Betonwände zu zerstören. Nicht immer war es vollständig gelungen. So hatten die späteren Siedler, als sie hier das Dorf Wiesental errichteten, die Decken der unterirdischen Bunkerkeller als Fundamente
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