Partitur des Todes
Niehoff lebt immer noch.»
Jetzt schaute auch Bernd Meissner von seiner Lektüre auf. Skeptisch sah er die beiden Polizisten an. «Darfich fragen, wie Siezu diesem gewagten Schluss kommen?»
«Erst habe ich noch eine Frage: Kann es sein, dass dieAussage des Zeugen Brandstätter damals außerhalb des Gerichtssaals bekannt geworden ist? Dass man in der Öffentlichkeit also schon 1964 von der Partitur und dem TagebuchArthur Hofmanns hätte wissen können?»
«Ja, natürlich», sagte Meissner.«Es waren unglaublich viele Journalisten und Prozessbeobachter anwesend. Es gibt wohl kaum einen Verhandlungstag, von dem hinterher nicht in den Zeitungen berichtet wurde. Und ganz gewiss konnte man auch etwas über dieAussage Brandstätters lesen. Trotzdem: Wie kommen Sie darauf, Dr.Niehoff könne noch leben?»
«Sie haben von den Morden am Mainufer gehört?», fragte Marthaler. «Auch wenn ich mich hauptsächlich mit den Verbrechen der Vergangenheit beschäftige… ganz von gestern bin selbst ich nicht.» «Wir gehen davon aus, dass es der Täter auf das Tagebuch Arthur Hofmanns abgesehen hat. Nach Lage der Dinge gibt es nur einen Menschen, der auf jeden Fall verhindern muss, dass die Aufzeichnungen ans Tageslicht kommen; und das ist Dr.Niehoff.» «Selbst wenn Sie recht hätten – haben Sie mal überlegt, wie alt Niehoff heute dann sein müsste? Er wäre neunundachtzig Jahre alt. Sie glauben doch nicht imErnst, dass so jemand in der Lage ist…»
«Warten Sie! Nicht so schnell!», sagte Carlos Sabato. «Spielen wir das Ganze einfach mal Schritt für Schrittdurch.Also: Niehoff begeht als Lagerarzt inAuschwitz zahllose Verbrechen. Weil er ahnt, dass der Laden bald zusammenbricht, lässt er sich falsche Papiere anfertigen.»
«Und zwar in Oranienburg im Lager Sachsenhausen», sagte Meissner. «Tatsächlich gab es dort eine Fälscherwerkstatt, in der zeitweise weit über hundert jüdische Häftlinge gearbeitet haben. IhreAufgabe bestand vor allem darin, Banknoten fremder Währungen herzustellen. So wurden zum Beispiel Millionen gefälschter englischer Pfundnoten in Umlauf gebracht.»
Jetzt war es Marthaler, der den Faden aufnahm: «Niehofflässt sich bei Kriegsende für tot erklären und lebt fortan unter dem Namen Heinrich Schmidt. ImAugust 1958 wird er, wahrscheinlich, ohne es selbst zu merken, von einem ehemaligen Häftling erkannt, was aber folgenlos bleibt. Sechs Jahre später erfährter während desAuschwitz-Prozesses aus der Presse, dass es ein schriftliches Zeugnis seiner Verbrechen gibt. Er hat wieder Glück; denn dieAufzeichnungen gelten als verschollen.Als im Frühjahr 2005 im Fernsehen berichtet wird, dass in der Nähe von Paris ein Umschlag ausAuschwitz aufgetaucht ist, in dem sich die Partitur einer Operette von Jacques Offenbach befindet…»
«…muss ihm sofort klar gewesen sein, dass damit auch dieAufzeichnungen seines ehemaligen FunktionshäftlingsArthur Hofmann ans Tageslicht kommen. Es bestand also erneut die Gefahr, dass er enttarnt würde.»
DerArchivar Bernd Meissner sah die beiden Polizisten abwechselnd an. Schließlich senkte er den Blick. «Ja», sagte er. «So könnte es sein.Alles, was Sie sagen, klingt plausibel.»
«Gibt es Beispiele für eine ähnliche Biographie?», fragte Marthaler.
«Allerdings! Zuhauf! Gleich nach dem Krieg gab es einen Film mit dem Titel ‹Die Mörder sind unter uns›. Das war der Normalzustand: Die Täter kehrten zurück in ihre Familien, ihren alten Berufen nach und waren oft genug so dreist, dass sie sich nicht einmal neue Papiere besorgten. Wenn es ihnen zu heiß wurde, wechselten sie eben doch den Namen und machten mit neuer Identität weiter. Sie ließen sich als Ärzte in einer anderen Stadt nieder, arbeiteten in Pharmakonzernen und machten in Krankenhäusern Karriere. Notfalls gingen sie nach Spanien, nach Brasilien oderArgentinien, wo sie in den deutschen Gemeinden ihresgleichen fanden. Ein paar von ihnen leben immer noch und sind niemals für ihre Taten belangt worden.»
«Gibt es Fotos von Dr.Niehoff?»
«Ja, ich meine, mich an zwei oder dreiAufnahmen zu erinnern.Allerdings werden Sie damit nicht viel anfangen können. Immerhin sind die Bilder über sechzig Jahre alt.»
«Trotzdem wollen wir sie haben», sagte Marthaler. Dann holte er sein Handy hervor und wählte die Nummer von Kerstin Henschel. «Du musst mir helfen», sagte er, als sie sich meldete.«Gib bitte den Namen Heinrich Schmidt in unser System ein. Lass alle Treffer mitAdresse und
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