Partitur des Todes
Stelle. Während er die Pistole immer noch auf Niehoffs Kopf gerichtet hielt, fingerte er mit der Linken sein Handy aus der Jackentasche.
«Das ist auch so eine Unsitte, an die ich mich nicht mehr gewöhnen werde», sagte Niehoff, «dass man heute mitten in einer Unterhaltung anfängt zu telefonieren.»
Marthaler gab Charlotte von Wangenheims Nummer ein und wartete. Während des kurzen Gesprächs ließ er den alten Mann keine Sekunde aus den Augen. «Charlotte, ich bin’s, Robert. Ich habe Niehoff!… Was?… Ja, schick das SEK.Nach Wiesental… ja… Oberweg 5… Nein, ich weißnicht, wo sie ist… Der Ort hat nur fünfzig Häuser,ihr könnt es nicht verfehlen. Ein großes, weißverputztes Haus. Beeilt euch, bitte!»
«Und jetzt?», fragte Niehoff. «Wollen Sie so lange stehen bleiben, bis Ihre verkleideten Kollegen hier ihren Maskenball samt Feuerwerk veranstalten?»
«Sagen Sie mir, wo Valerie Rochard ist!» Marthaler trat zwei Meter näher an den Tisch heran.
«Nicht so ungeduldig, junger Mann. Wenn Sie freundlich zu mir sind, bin ich auch freundlich zu Ihnen. Dann sage ich Ihnen vielleicht sogar, was Sie wissen wollen. Ich verstehe nichts von Ihrem Beruf.Aber dass Sie keine zweite Gelegenheit haben werden, sich mit mir auszutauschen, dürfte Ihnen doch klar sein.»
«Wollen Sie mir drohen?»
«Ihnen drohen? Ich? Nein, ganz gewiss nicht.»
Marthaler merkte, dass er keine Handhabe gegen den Alten hatte. Niehoff hatte nichts zu verlieren. Er hatte keineAngst mehr vor dem Tod.
«Haben Sie wirklich geglaubt, davonzukommen? Haben Sie geglaubt, Sie könnten sieben Menschen sterben lassen, ohne dass wir Sie fassen?»
«Was soll das?» Niehoffs Ton war schroff geworden. «Was habe ich mit diesen Menschen zu schaffen? Ich wollte die Partitur, sonst nichts.Alles andere war Pfusch. Ein Unfall, wenn Sie so wollen.»
«Wie auch immer, Sie haben mir noch nicht geantwortet: Haben Sie geglaubt, uns zu entwischen?»
Niehoff machte eine müde Handbewegung. «Sagen wir so: Es war den Versuch wert. Ich stand kurz vor dem Durchbruch. Ich hätte noch vier Monate gebraucht, vielleicht ein halbes Jahr…»
«Wofür, Herr Niehoff? Wofür hätten Sie noch ein halbes Jahr gebraucht?»
Niehoff ließ ein leises Kichern hören: «Für ein Forschungsprojekt. Haben Sie je das Wort Haploidisierung gehört? Nein? Das habe ich mir gedacht. Dann hat es keinen Zweck, mit Ihnen darüber zu reden… Haben Sie eigentlich eineAhnung, wo Sie sich befinden?»
«Ja», sagte Marthaler. «Ich weiß es. Sie sind dorthin zurückgekrochen, wo Sie als junger Mann vier Wochen mit Ihrem Führer verbracht haben.»
«Mein Führer? Ein hinfälliger Psychopath war er, sonst nichts. Ein primitiver Emporkömmling, der am Ende gesabbert hat wie ein Greis.» Niehoff schien einen Moment zu überlegen, dann grinste er. «Ah, ich verstehe, das hätte ich mir denken müssen. Sie halten mich für einen Nazi, nicht wahr? Sie glauben, wer es in jenen Jahren zu etwas gebracht hat, muss ein Nazi gewesen sein.»
«Sie waren Mitglied der NSDAP und Sie waren Mitglied der SS.Sie haben Hunderte, wenn nicht Tausende Morde begangen. Für was sonst soll ich Sie halten, wenn nicht für einen Nazi?»
Marthaler sah, wie an Niehoffs Schläfe eineAder pulsierte.Als derAlte jetzt antwortete, klang seine Stimme gepresst vor verhaltener Wut.
«Sie begreifen nichts», stieß er leise hervor. «Sie begreifen gar nichts. Ich habe die Nazis verachtet, wie übrigens viele meiner Kollegen. Diese Bewegung hat den primitivsten Pöbel angezogen wie der Dung die Fliegen.Aber wann sonst hätte man uns Medizinern so gute Bedingungen geboten? Wir konnten Versuche durchführen und forschen nach Herzenslust. Und von den Ergebnissen unserer damaligenArbeit profitieren Sie noch heute, junger Mann, begreifen Sie das endlich. Ich… ein Nazi?Ich war nicht mal ein Antisemit! Ich habe den kleinen Juden Arthur Hofmann sogar gemocht. Wissen Sie, dass wir zusammen die Arien Jacques Offenbachs gesungen haben?»
Marthaler nickte. «Haben Sie dieses Haus gebaut?»
Niehoff lächelte. «Nein. Ich bin erst vor einigen Jahren hier eingezogen. Ich fand, es war eine hübsche Idee, hierher zurückzukehren. Ein bisschen kurios, aber hübsch. Und ich dachte, es sei womöglich ein gutes Versteck. Ich glaube, man nennt so etwas ein psychologisches Versteck…Ah, mein Tee. Ich fürchte, jetzt ist er bitter geworden.»
Niehoff machte eine Bewegung,als wolle er sich aus seinem Sessel erheben.
«Bleiben Sie, wo
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